Fossil-Geschichte 13

Warum kann ich nicht so schreiben, wie ich möchte? Warum mischt sich der Computer dauernd ein? Für was brauche ich eine Text-Verarbeitung?

Text ohne Verarbeitung

Liebe Kinder, euer Fossil kann sich noch an die Zeit erinnern, als die Textverarbeitung noch nicht erfunden worden war. Das waren schöne Zeiten! Man konnte einen Text in die Tastatur tippen, und genauso erschien er auf dem Bildschirm, und genauso erschien er gedruckt auf dem Papier. Das heißt, auf dem Papier waren die Buchstaben jeweils durch neun verschieden angeordnete Punkte dargestellt, wie ich euch neulich schon mal erklärt habe. Das einzige damals bekannte Patent zum Erzeugen eines geschriebenen Textes mit einem Computer stammte anscheinend von einem gewissen Edi Tor; jedenfalls hießen die Programme alle so.

Wie gesagt, es war einfach: Man sah, was man schrieb, und wenn man sah, dass die Zeile zuende ging, dann musste man eben dafür sorgen, dass das letzte Wort unverstümmelt noch in die Zeile kam oder ganz oder teilweise erst in die nächste. Aber die Entscheidung lag beim Schreiber!!! Leider sind diese Zeiten vorbei.

Heute sitzt da hinter dem Bildschirm anscheinend ein Kobold, der glaubt, er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, und der deshalb dem User das vermeintlich lästige Denken abnehmen will. Egal, ob das Textverarbeitungsprogramm irgendwas mit WORT heißt oder so ähnlich oder anders: wehe, wenn ich mal versuche, ein Wort zu schreiben, das so nicht im Duden steht! Dann ist aber was los! Dann unterkringelt der Kobold das Wort sofort, weil er es nicht kennt, der Depp.

Oder wenn ich versuche, den linken Rand von dem Getippe einzustellen, mit Einrücken und so. Früher, mit der altmodischen aber mechanisch überschaubaren Schreib-Maschine, gab es eine einfache Hardware-Lösung für das Problem: Ein kleiner Schieber auf einer Schiene wurde eingerastet, und der so eingestellte Rand war Gesetz für dieses Dokument, oder wenigstens für diesen Absatz, bis der Schieber wieder verschoben wurde. Nicht so bei einem Textverarbeitungsprogramm. Erstmal gibt es da mindestens zwei Schieber mit verschiedenen Funktionen, so dass man weder weiß, welchen Schieber man verstellen muss, noch, was daraufhin passiert. Normalerweise wird der linke Rand von meinem Schreiben daraufhin eine Wellenlinie, und nur wenn ich besonders gut drauf bin, schaffe ich es, daraus eine senkrechte Gerade zu machen, ohne einen Tobsuchtsanfall zu bekommen.

Oder ich will mir eine Liste machen, was ich alles heute noch vorhabe (einkaufen / spazierengehen / ein Bier trinken...), dann setzt der Kobold an jeden klein geschriebenen Zeilenanfang einen Großbuchstaben. Interessant ist auch, wie der Kobold reagiert, wenn ich eine Zeile mit einem Bindestrich beginne. Das kann ja im Text mal vorkommen. Dann meint der Kobold - und davon ist er nur mühsam abzubringen -, jetzt kommt eine Aufzählung, und am Beginn jeder neuen Zeile schreibt er ungefragt einen Strich oder gar eine neue Aufzählungs-Zahl!

Ein dringender Fall für die HILFE-Taste also. Die hat es früher zwar nicht gegeben, aber heute hilft sie mir auch nicht. Beim Drücken dieser Taste lande ich entweder im Verzeichnis "New Features", in dem verkündet wird, dass jetzt auch ...erheblich erweiterte Funktionalität...direkte Referenzierung...HTML-Hypertext... geboten wird, oder ich finde mich im Inhaltsverzeichnis wieder, in dem ich vor lauter unverstandenen Stichworten meine Frage vergesse, oder ich habe das Glück, dass in einem Fenster danach gefragt wird, was ich denn suche. Erleichtert gebe ich mein Stichwort ein, aber es ist wohl nicht genormt genug; denn die Antwort heißt: Kein Eintrag unter diesem Stichwort. Also gehe ich es systematisch an und mache einen geführten Rundgang über den Bildschirm. Aber bevor ich verstanden habe, was die niedlichen kleinen Bildchen alle machen, wenn ich sie anklicke, merke ich, wie sich Objektleisten, Werkzeugleisten, Symbolleisten, Statusleisten, Bildlaufleisten, Funktionsleisten... langsam aber sicher aufeinandertürmen zu einem riesigen Brett vor dem Kopf.

Liebe Kinder, ich schreibe dies aus der Sicht eines Fossils. Ich weiß, ihr seid da viel besser dran. Schließlich habt ihr Hunderte von Stunden vor dem Computer verbracht, um Abenteuerspiele zu überleben. Im Angesicht von undurchschaubaren Labyrinthen, finsteren Gewölben und bedrohlichen Ungeheuern habt ihr kaltblütig und intuitiv die richtigen Tresore, Truhen und Geheimtüren angeklickt, die euch der Lösung des Rätsels ein wenig näher gebracht haben. Das ist natürlich ein gewaltiger Vorteil beim Versuch, zu überleben in einem feindseligen Textverwurschtungssystem. An dieser Stelle, liebe Kinder, gebe ich auf. Die Steinzeit und die Jahre danach - kurz das Praecomputerium - habe ich versucht euch zu erklären. Das war ja auch alles hardwaremäßig-anschaulich-griffig; aber im Software-Dschungel der Gegenwart und Zukunft müsst ihr euch alleine durchkämpfen.

Und wenn eure Kinder einmal in einem vergilbten Dokument das Wort "Rechenschieber" lesen und euch fragen, was das ist, dann sagt ihnen, ihr habt früher mal einen gekannt, der kannte den noch:

Das war euer Fossil