Behrmann, Ingrid: Der Weiberkatalog des Simonides Maier, Friedrich: Latein auf gefestigter Basis in die Zukunft - Ansätze zu einer neuen Begründung des Faches Schmude, Michael P. : Latein für das 21. Jahrhundert - Grundlagen eines europäischen Gymnasiums Strunz, Franz : Voltaire und Euhemeros
Ingrid Behrmann : Der Weiberkatalog des Simonides
oder: Was Sie schon immer über Frauen wussten
Meine Damen und Herren*, Sie wissen, für Männer ist das Phänomen "Frau" bis heute ein weitgehend ungelöstes Rätsel. Daher hat man sich schon früh Gedanken gemacht, wo dieses merkwürdige Geschöpf eigentlich herkommt - und warum es überhaupt existiert. Im Alten Testament heißt es dazu einfach: "Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei." (1. Mose 2,18). Und Gott schafft die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel, doch es findet sich darunter keine Gehilfin für den Menschen. Also lässt Gott Adam, den Menschen, einschlafen und baut aus seiner Seite (oder Rippe, wie es bei Luther heißt), Eva, die Männin. Bekanntlich führt Evas Verhalten in der Folge dazu, dass Mann und Frau das Paradies verlassen, sich von der Arbeit ihrer Hände ernähren, sich fortpflanzen und schließlich sterben müssen. Soweit die jüdisch-christliche Version.
Bei Hesiod, einem altgriechischen Dichter des 7. Jahrhunderts vor Christus, wird berichtet, wie Prometheus, der große Freund der Menschen, Zeus mit dem Opfer betrügt. Von nun an essen die Menschen die besten Teile des Opfertieres, während den Göttern nur Haut und Knochen geweiht werden. Zeus, der oberste der Götter, ist erzürnt und nimmt den Menschen das Feuer, das sie bis dahin besaßen. Prometheus aber stiehlt das Feuer wieder von Zeus und bringt es den Menschen zurück. Dafür denkt sich Zeus eine furchtbare Rache aus. Er sagt zu Prometheus: "Ich werde dir und den zukünftigen Menschengenerationen ein großes Übel geben dafür, dass sie das Feuer wiederhaben; ein Übel, an dem sich alle erfreuen werden, und sie werden ihr eigenes Unglück umarmen." So sprach er und lachte laut heraus, der Vater der Menschen und Götter (Hesiod, Erga 56-59). Dann rief er den Gott Hephaistos herbei und befahl ihm, Erde mit Wasser zu mischen und ein Mädchen herzustellen, das den unsterblichen Göttinnen gliche, und ihm Leben einzuhauchen. So entstand die erste Frau, und alle Götter und Göttinnen haben jeder etwas beigesteuert, um sie besonders reizvoll, schön und attraktiv, aber auch hinterhältig zu machen. Hermes, der Gott der Diebe, gab ihr einen "hündischen Sinn" und ein "diebisches Wesen" sowie Lügen und falsche Worte. Da jeder der Götter sein Teil beisteuerte, nannten sie sie "Pandora" (von pas, pasa pan: "jeder" und doron: "Geschenk"; Volksetymologie).
Nun hatte Prometheus, dessen Name verstanden wird als derjenige, "der vorher denkt", einen Bruder mit Namen Epimetheus - das ist der, "der (erst) nachher denkt". Dem schickte Zeus die Pandora. Epimetheus, den sein Bruder gewarnt hatte, niemals ein Geschenk von Zeus anzunehmen, damit es den Menschen nicht schlecht erginge, schlug die Warnung in den Wind und schickte Pandora nicht zurück, sondern behielt sie. So begriff er erst hinterher, was er sich da für ein Übel eingehandelt hatte. Denn bis dahin lebten die Menschen auf der Erde ohne Not, Schmerz und Krankheiten, die schließlich zum Tode führen. Doch die Frau macht das große Gefäß auf ("Píthos" heißt es bei Hesiod, später bekannt als die Büchse der Pandora) und zerstreut den Inhalt über die Menschheit, nämlich Trauer und Leid. Nur die Hoffnung bleibt im Gefäß gefangen, weil Pandora den Deckel wieder schließt.1
Mit Pandora kam das Übel über die Menschheit, und sie ist die Stammmutter aller Frauen. Die Männer indes sind doppelt geschlagen, denn einerseits fressen die Frauen den Männern die Haare vom Kopf. Hesiod benutzt als Gleichnis die Bienen (das sind die Männer!), die Tag um Tag schuften, und die Drohnen (das sind die Frauen), die drinnen (d. h. zu Hause) sitzen und sich die Früchte fremder Arbeit in den Bauch schlagen2 (Hesiod, Theogonie 594-599). Wenn ein Mann andererseits meint, er könnte dem Übel entgehen, indem er nicht heiratet, so ergeht es ihm auch wieder schlecht. Denn er hat dann im Alter niemanden, der ihn pflegt, und nach seinem Tod geht sein Besitz an irgendwelche entfernten Erben. Es gibt aus diesem Dilemma also kein Entrinnen.
Die Vor- und Nachteile der Ehe: Dies ist ein Thema, das immer wieder behandelt wird; Hesiod ist das früheste literarische Beispiel dafür. Johannes Stobaios, der im fünften Jahrhundert nach Christus eine Sammlung nützlicher Texte zu den wichtigsten Lebensinhalten für seinen Sohn verfasste, widmete ein ganzes Kapitel der Ehe. Das Werk des Stobaios, das uns heute verkürzt in immer noch vier Büchern erhalten ist, griff auf frühere Werke dieser Art zurück. Die ersten Bücher behandelten Philosophie, Metaphysik, Physik und Ethik. Im vierten Buch geht es um Politik, Familienleben und Hausverwaltung. Die Themen werden nicht in Form von Traktaten dargestellt, sondern es handelt sich um eine Sammlung von Zitaten zu den jeweiligen Themen, die aus den Werken der damals schon als klassisch empfundenen Autoren der griechischen Antike geschöpft wurden. Diese Textstellen sind aus ihrem weiteren Zusammenhang herausgerissen, oft sind es nur einige Zeilen, z. B. aus einem Drama, das mit dem Namen des Autors zitiert ist. So also sah, in groben Zügen geschildert, das Werk aus, das Johannes Stobaios als "Lehrsammlung" für seinen Sohn kompilierte. Im 22. Kapitel des vierten Buches geht es um die Ehe. Das Kapitel ist in sieben Unterkapitel gegliedert, jeweils mit sprechenden Titeln.1. Teil: Die Ehe ist das beste
Hier wird unter anderem der klassische griechische Redner Demosthenes aus dem vierten Jahrhundert vor Christus zitiert, der sagt (19)3: "Die Hetären (Prostituierte) haben wir für die Lust, die jungen Mädchen zur täglichen Körperpflege, die Ehefrauen aber, um legitime Kinder zu zeugen und eine treue Bewahrerin des Hauses zu haben." (Gegen Neaira LIX 122)
2. Teil: Es ist nicht gut zu heiraten
Zitiert wird z. B. der griechische Komiker Menander (4. Jh. v. Chr.) mit den Versen (40): "Wenn du heiratest, musst du wissen, dass du schon großes Glück hast, wenn das Übel, das du erhältst, klein ist." In diesem Unterkapitel stehen auch die immer wieder zitierten Verse des archaischen Lyrikers Hipponax (6. Jh. v. Chr.), die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte (35): "Zwei Tage sind bei einer Frau die angenehmsten: der Tag, an dem man sie heiratet, und der Tag, an dem man sie zu Grabe trägt." (Hipponax, 68 West)
3. Teil: Für die einen ist die Ehe nützlich, für andere nicht
Hier stehen häufig Spielarten des Motivs (73): "Es gibt nicht Schlimmeres als eine schlechte Frau und nichts Besseres als eine gute." Auch dieser Ausspruch geht auf Hesiod zurück (Erga 702f.); selbst er gibt also zu, dass es so etwas wie eine gute Ehefrau geben kann (das ist die, die ihren Mann nicht vorzeitig altern lässt).
4. Teil: Die Brautwahl
Da heißt es z. B.: Heirate nicht über deinem Stand (94, Euripides, Melanippe, frg. 502 N.²). Gemeint ist hier vor allem das Geld. Der Mann, der eine reiche Frau heiratet, ohne selbst reich zu sein, wird von ihr abhängig, "steht unter ihrer Fuchtel".
5. Teil: Bei der Heirat muss man darauf achten, dass das Alter passend gewählt ist
Als Beispiel wird der Lyriker Theognis aus dem 6. Jh. v. Chr. angeführt (110): Die junge Frau geht dem alten Mann fremd.
6. Teil: Bei der Ehe soll man nicht auf Adel oder Reichtum schauen, sondern auf die Art
- Nämlich die Art, wie die Frau mit Geld umgeht.
7. und letzter Teil: Schmähung der Frauen
In diesem Unterkapitel sind alle möglichen Texte zusammengetragen, die sich negativ über Frauen äußern. Die Tatsache, dass dieses Kapitel hier angefügt ist als krönender Abschluss zum Kapitel "Ehe" zeigt, dass es sich hierbei bereits um einen literarischen Topos, einen immer wieder behandelten Gegenstand, handelt. (Wir erinnern uns, dass Johannes Stobaios seinerseits aus älteren Zitatensammlungen schöpft, in denen dieses Thema sicher schon vorgegeben war.) Dieses Kapitel ist mit 19 Seiten in der von mir benutzten Ausgabe ( Ioannou Stobaiou eklogon apophthegmaton hypothekon - Anthologium C. Wachsmuth - O. Hense [Hrsg.], Berlin Weidmann [1958]) das längste. Nur das erste, mit 18 Seiten, kann sich mit ihm messen. Dem stehen allerdings insgesamt 55 Seiten mit ambivalenten oder ausschließlich negativen Beurteilungen der Frau und der Ehe gegenüber.
Was also steht in dem Schmähkapitel? Das erste Beispiel stammt vom großen klassischen Tragödiendichter Euripides aus dem fünften Jahrhundert vor Christus (ein Fragment, dessen Zusammenhang wir sonst nicht kennen, frg. 1059 N.²; 136):
"Furchtbar ist die Kraft der Meereswogen,
furchtbar die Strömungen des Flusses und die heißen Feuersbrünste,
furchtbar ist die Armut, doch nichts ist ein so furchtbares Übel wie die Frau.
Kein Bild könnte ein derartiges Übel abbilden,
kein Wort es beschreiben; wenn aber dieses Wesen
von irgendeinem Gott geschaffen worden sein sollte, so wisse er (näml. der Gott),
dass er der größte Erschaffer von Übel
und der allergrößte Menschenfeind ist."
Ich erinnere noch einmal daran, dass wir nicht wissen, aus welchem Zusammenhang dieses Zitat stammt und in welchem Drama in welcher Situation welcher enttäuschte Mann diese verzweifelten Flüche ausstößt. Dass diese Verse uns aber ohne den Zusammenhang, einzig aufgrund ihrer frauenfeindlichen Äußerungen auf diese Art überliefert sind, ist ein Punkt, den wir festhalten wollen.
Ein anderes Beispiel stammt wieder vom Komödiendichter Menander. Da heißt es (frg. 802 K.; 158): "Es ist viel schlimmer, eine alte Frau zu reizen, als einen Hund." Zwei Verse einer anderen Menanderkomödie lauten (181): "Von den vielen wilden Tieren, die auf der Erde und im Himmel leben, ist das schlimmste Tier die Frau." Wieder sind die Verse aus dem Zusammenhang gerissen und, nicht zu vergessen, es handelt sich um einen Komödie.
Die Textstellen, die in diesem Unterkapitel gesammelt sind, entstammen alle der Dichtung (keine Prosa), und zwar hauptsächlich dem Drama - sowohl der Tragödie, wie wir sahen, als auch der Komödie. Dabei handelt es sich in der Regel um nicht mehr als einige wenige Verse; die Beispiele, die ich genannt habe, sind charakteristisch. Es gibt jedoch einen längeren Text von 118 Versen, und dem soll unsere Aufmerksamkeit nun gelten.
Als Autor wird der archaische Dichter Semonides genannt, von dem insgesamt nur wenig erhalten ist. Die von Johannes Stobaios zitierte Stelle ist das längste zusammenhängende Textstück von Semonides, das uns bekannt ist, und es ist nur durch das Buch des Stobaios überhaupt überliefert.
An dieser Stelle soll eine kurze Bemerkung zur Erhaltung der altgriechischen Texte gemacht werden. (Wer in der Schule antike Texte liest, macht sich oft nicht klar, woher diese Texte stammen und wie sie in der gegebenen Form auf uns gekommen sind.) Grundsätzlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, z. B.:
* Der Text wurde von Generation zu Generation mehr oder weniger korrekt abgeschrieben.
* Einige Texte sind uns auf antiken Papyri erhalten, vorwiegend aus Ägypten, aber auch aus Nordgriechenland. Manchmal finden sich auch auf Tonscherben eingeritzte literarische Texte (Bsp. Sappho 192 Page).
* Manche Werke sind verloren; es finden sich jedoch Zitate aus diesen Werken bei anderen antiken Autoren oder in Sammelwerken bzw. Enzyklopädien.
Um einen derartigen Fall handelt es sich bei unserem Text. Über die Person des Autors (Semonides) wissen wir nicht viel. Aus mittelalterlichen Nachschlagewerken (Photios, Suda) erfahren wir, dass er im Altertum bekannt war als einer der drei großen Dichter von Jamben. Was sind Jamben? Der Jambus ist ein Versmaß, und zwar das Versmaß, das der natürlichen gesprochenen Sprache, der freien Rede, am nächsten kommt. Dieses Versmaß wurde bevorzugt für Spottlieder benutzt (auch in kultischem Zusammenhang). Wenn man etwas Böses zu sagen hatte, dann war der Jambus das geeignete Versmaß. Im Jambus konnte man einfach nur freche oder witzige oder schmutzige Dinge sagen, aber es wurden auch regelrechte Invektiven gestartet, Hetzkampagnen gegen einzelne Personen. Das ging so weit, dass der vorhin bereits zitierte Jambendichter Hipponax den Bildhauer Boupalos mit seinen Jamben in den Selbstmord getrieben haben soll. (Angeblich als Rache für ein karikierendes Porträt; dies ist sicher eine Anekdote, sie zeigt jedoch, als wie scharf die Jamben empfunden wurden.) Eine ähnliche Anekdote wird auch von Archilochos, dem größten aller Jambendichter, erzählt.
Während wir Archilochos aufgrund einer Sonnenfinsternis, die er erwähnt, in die erste Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. datieren können und Hipponax aufgrund historischer Zeugnisse in die zweite Hälfte des 6. Jhs. v. Chr., wissen wir von Semonides nur, dass er in die archaische Zeit des 7. oder 6. Jhs. v. Chr. gehören muss. Aufgrund verschiedener Kombinationen, die alle reichlich hypothetisch und, wie jüngst dargelegt wurde, durchaus unsicher sind, ist Semonides bisher in die 2. Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. datiert worden. Ein neuerer Artikel eines amerikanischen Philologen (T. H. Hubbard, American Journal of Philology 115, 1994, 175ff.) hat gezeigt, dass wir richtiger damit liegen werden, Semonides ins ausgehende 6. Jahrhundert v. Chr. zu datieren. Dies ist der neueste Forschungsstand, für unsere Zwecke ist dies allerdings nicht relevant, da es sich auf jeden Fall um den ältesten erhaltenen Text seiner Art handelt.
Der Text wird hier in deutscher Übersetzung vorgelegt. Da der Jambus, wie oben ausgeführt, der freien Rede am nächsten kommt (und daher im [späteren] klassischen griechischen Drama als Sprechvers für die Dialogpartien dient), ist eine Prosaübersetzung m. E. die angemessenste Wiedergabe. (Dies hat sich heute auch im englischen Sprachraum und - ohnehin - im Neugriechischen durchgesetzt.) Ich lese den Text von M. West, Delectus ex iambis et elegis Graecis, Oxford 1980: Semonides, Fragment 7, mit drei Abweichungen (s. Anm.). Wir wissen nicht, ob am Anfang des Textes etwas fehlt. Das Zitat bei Johannes Stobaios heißt wörtlich:
"Gott machte am Anfang jede Frau unterschiedlich.
Eine schuf er aus dem Borstenschwein. Bei der im Haus liegt alles unordentlich im Dreck herum, auf dem Fußboden verteilt, und sie selbst sitzt ungewaschen in schmutzigen Kleidern im Mist und mästet sich.
Die nächste Frau machte Gott aus dem durchtriebenen Fuchs, die kennt alle Tricks. Ihr entgeht kein einziges Übel, aber auch nichts Gutes; doch nennt sie das Gute oft schlecht und Schlechtes gut, und immer legt sie einen anderen Charakter an den Tag.
Die nächste wiederum stammt vom Hund. Die ist übel gesinnt, ganz die Mutter4. Alles will sie hören, alles wissen. Überall steckt sie ihre Nase hinein, stromert herum und bellt, auch wenn sie keinen Menschen sieht. Die bringt kein Mann dazu aufzuhören, auch nicht mit Drohungen. Selbst wenn er ihr in Wut die Zähne einschlüge, - aber auch nicht mit süßen Worten, selbst dann nicht, wenn sie bei den Gästen sitzt: ununterbrochen kläfft sie, da ist nichts zu machen.
Eine andere formten die olympischen Götter aus Erde und gaben sie dem Mann; die ist geradezu beschränkt. Und zwar kennt eine solche Frau weder schlecht noch gut in irgendeiner Form, und das einzige Werk, das sie versteht, ist das Essen. Und wenn Gott schlechtes Wetter schickt, zieht sie, wenn sie friert, nicht einmal ihren Schemel näher ans Feuer5.
Die nächste stammt vom Meer. Die hat zwei Gesichter: Einen Tag lacht sie und ist fröhlich; ein Gast, der sie zu Hause sieht, wird sie loben und sagen: "Es gibt keine bessere Frau als diese auf der ganzen Welt und keine schönere." Doch anderntags ist sie unerträglich, nicht anzusehen - bloß nicht näher kommen. Dann wütet sie herum, ist unnahbar wie eine Hündin mit Welpen, ist unleidlich und unwirsch allen gegenüber, Freunden wie Feinden gleichermaßen. So wie das Meer oft ruhig daliegt, harmlos, den Seeleuten zur Freude, zur sommerlichen Jahreszeit - oft aber tobt es, dahinpeitschend in tosenden Wellen. Genau so ist eine solche Frau 6: Sie ist von launischer Natur.
Eine andere wiederum stammt vom grauen, sturen Esel. Nur unter Zwang und Androhungen fügt sie sich schließlich und schafft alles gerade mal so. Unterdessen isst sie Tag und Nacht im Innern des Hauses, sie isst am Herd. Und sie nimmt ohne Unterschied jeden, der da kommt, als Partner im Sex.7
Die nächste stammt vom Marder, eine widerliche, unheilvolle Kreatur. Denn die ist keine Spur schön oder reizvoll, angenehm oder liebenswert. Doch ist sie lüstern nach dem Liebeslager, wobei sie beim Mann, der bei ihr ist, nur Brechreiz auslöst. Dazu stiehlt sie und fügt den Nachbarn allerlei Übles zu, und oft schlingt sie noch unverbranntes Opferfleisch hinunter.
Eine andere hat das edle, langmähnige Pferd gezeugt. Die geht notwendigen Arbeiten und Beschwerlichkeiten aus dem Weg: die Handmühle wird sie nicht anrühren und auch kein Sieb in die Hand nehmen, und den Unrat wird sie nicht aus dem Haus schaffen, ja sie wird sich, aus Angst vor dem Ruß, nicht einmal an den Backofen setzen. Durch Liebeszwang aber macht sie sich den Mann zum Freund. Sie wäscht sich jeden Tag zwei-, dreimal den Dreck herunter und cremt sich mit Duftsalben ein. Ihr langes, volles Haar trägt sie immer gekämmt und mit Blumen geschmückt. Eine solche Frau ist ein wundervoller Anblick für Außenstehende, für den Ehemann dagegen ist sie ein Übel - es sei denn, er sei ein Herrscher oder König, der sich an derlei ergötzt.
Die nächste entstammt dem Affen. Dies ist nun eindeutig das größte Übel, das Zeus den Männern zugedacht hat. Das Gesicht ist abgrundtief hässlich; wenn eine solche Frau durch die Stadt geht, wird sie von allen Menschen ausgelacht: Der Hals ist kurz, er bewegt sich kaum; und sie: ohne Hintern, nur Haut und Knochen. Oje, der ärmste Mann, der ein solches Übel in den Armen hält! (Diese Frau) versteht sich auf alle möglichen Ränke und Kniffe, genau wie der Affe. Das Lachen schert sie nicht. Und sie würde niemals jemandem etwas Gutes tun, sondern sie ist immer nur auf eines bedacht und hat nur das den ganzen Tag im Kopf: wie und womit sie am meisten Schaden anrichten könnte.
Die nächste wiederum stammt von der Biene. Wer die erhält, hat Glück; denn nur an ihr gleitet jeder Tadel ab. Unter ihr blüht und gedeiht der Wohlstand. Als liebende Ehefrau wird sie gemeinsam mit dem liebenden Ehemann alt, nachdem sie eine edle Nachkommenschaft mit gutem Namen geboren hat. Und herausragend unter allen Frauen ist sie, von göttlicher Anmut umgeben. Und sie sitzt auch nicht gern in der Frauenrunde, wo sie über Sex reden.
Das sind die Frauen, mit denen Zeus den Männern seine Gunst erweist, so wunderbar und ausgesprochen weise...8
Denn Zeus hat dies als größtes Übel erschaffen: die Frauen.
Wenn sie einem Mann in irgendeiner Form nützlich zu sein scheinen - gerade dem widerfährt das Schlimmste. Denn niemals wird einer einen ganzen Tag in guter Stimmung verbringen, wenn er eine Frau hat, und er wird den Hunger nicht leicht aus dem Haus treiben, den verhassten Mitbewohner und übel wollenden Gott. Und wenn ein Mann vorhat, es sich zu Hause so richtig gut gehen zu lassen - sei es durch die Gunst eines Gottes sei es durch die eines Menschen -, dann nörgelt sie herum und rüstet sich zum Kampf. Denn wo eine Frau ist, kann der Mann nicht einmal einen angereisten Freund gut aufnehmen.
Und gerade die, die am allersittsamsten scheint, die ist es, die die größte Schande bringt. Der Mann hat nämlich keinen blassen Schimmer, - und die Nachbarn sehen schadenfroh dabei zu, wie auch er an der Nase herumgeführt wird.
Seine eigene Frau lobt jeder Mann nach Kräften und tadelt die des andern. Wir wissen nämlich nicht, dass wir alle im selben Boot sitzen.
Denn Zeus hat dies als größtes Übel erschaffen und legte es als Fessel und unzerreißbare Bande an, und infolgedessen hat Hades9 schon manche aufgenommen, die sich wegen einer Frau geschlagen haben ..."
Hier bricht der Text ab. Offensichtlich folgten jetzt Beispiele aus dem Mythos. Das Paradebeispiel ist natürlich der zehnjährige Kampf der Griechen mit den Trojanern um die Rückgewinnung der schönen Helena, wie er im Epos beschrieben wird. Offensichtlich fand der Epitomator den mythologischen Teil unseres Textes nicht bissig oder nicht originell genug, um ihn mit aufzunehmen. (Wie oben schon bemerkt, wissen wir auch nicht, ob am Anfang etwas fehlt.)
Der Text in der uns erhaltenen Form besteht aus zwei ungleichen Teilen. Das ist einmal der Frauenkatalog und dann ein kürzerer Abschnitt, in dem es um die Leiden des verheirateten Mannes und die Dummheit der gelackmeierten Ehemänner geht. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Teile recht unterschiedlich zu sein und nicht recht zusammenzupassen. Das hat in der älteren Forschung (s. H. Jordan, Hermes 14, 1879, S. 287) dazu geführt, dass man vermutete, hier seien zwei unzusammenhängende Textstücke aneinander gefügt worden. Vor allem hat man sich daran gestoßen, dass der positiv beschriebene Frauentyp, die Biene, im zweiten Teil des Textes überhaupt keine Rolle mehr spielt. Die Frauen werden samt und sonders ohne Ausnahmen abgeurteilt. Heutzutage tut man sich in der Philologie nicht so leicht, ein zusammenhängend überliefertes Textstück auseinanderzureißen. Doch auch inhaltlich lässt sich, wie ich meine, zeigen, dass die Textpartien durchaus zusammenpassen.
Im Frauenkatalog geht es um die Ehefrau und die Probleme, die dem Mann aus ihrem Verhalten erwachsen (bei sechs von zehn Frauentypen wird der Mann erwähnt). Der zweite Teil variiert das Thema, indem er, in einer Akzentverschiebung, nun den Mann in den Mittelpunkt rückt, der mit seiner Frau geschlagen ist, selbst wenn er es selbst nicht erkennt. So wie im Frauenkatalog jede Frau absolut aus der Sichtweise der Männer beschrieben wird, so heißt es anschließend sogar ganz deutlich: "Wir wissen nämlich nicht, dass wir alle im selben Boot sitzen." Hier spricht der Dichter ausdrücklich in seiner Eigenschaft als Mann, und zwar nicht als objektiver Richter, sondern als unmittelbar Betroffener.
Wichtig ist auch immer, was andere sagen und denken. So ist im Frauenkatalog die Rede davon, dass der Hündintypus auch dann nicht aufhört zu kläffen, wenn Gäste da sind (was dem Mann besonders peinlich sein muss). Die Meerfrau wird an einem Tag von einem Gast gelobt (und stellt sich am nächsten als unausstehlich heraus). Die Marderfrau fügt den Nachbarn Übles zu; die Pferdefrau ist ein wunderbarer Anblick für andere (nur für den Ehemann ist sie furchtbar, wenn er ein einfacher Mann ist). Die Affenfrau, die als die schlimmste von allen bezeichnet wird, ist so hässlich, dass sie von allen Menschen ausgelacht wird (was natürlich negativ auf den Mann zurückfällt: Wer will mit sowas schon verheiratet sein...). Und von der Bienenfrau gleitet jeder Tadel ab; d. h. dass andere nichts Schlechtes über sie sagen können oder zumindest dass sie damit auf taube Ohren stoßen würden.
Ebenso heißt es im zweiten Teil, dass ein Mann, wenn er eine Frau hat, nicht einmal einen Freund gut aufnehmen kann, und es sind die Nachbarn, die schadenfroh zusehen, wie der ahnungslose Ehemann gehörnt (oder jedenfalls betrogen) wird. (Außerdem heißt es, dass zwar jeder Mann seine eigene Frau lobt, die der andern Männer aber tadelt.)
Ich möchte im folgenden argumentieren, dass sogar die Bienenfrau nicht so sehr aus dem Gesamtzusammenhang herausfällt, wie man bisher geglaubt hat. Dazu wende ich mich jetzt ganz dem Frauenkatalog zu. Fassen wir zusammen: Es gibt zehn Frauentypen. Jede ist anders, je nach ihrer (angeblichen) Herkunft. Die Kriterien, nach denen sie beschrieben werden, sind unterschiedlicher Art. Einmal handelt es sich um Äußerliches. Dabei ist Schönheit wichtig, weil, wie gesagt, andere einen Mann auch danach beurteilen, ob seine Frau schön oder hässlich ist. Die Pferdefrau ist schön (auch wenn das einen Fluch für den eigenen Ehemann bedeutet, denn er kann ihr nicht widerstehen, obwohl sie keine Arbeit leistet), und die Meerfrau ist an guten Tagen in den Augen des Gastes nicht nur die beste aller Frauen, sondern auch die schönste. Dagegen ist die Schweinefrau dreckig, die Marderfrau völlig ohne Reiz und die Affenfrau ein Ausbund an Hässlichkeit.
Ein weiterer Punkt, der in verschiedenen Modulationen immer wieder erscheint, ist das Essen. Die Schweinefrau mästet sich, die Erdfrau versteht von nichts etwas außer vom Essen, die Eselfrau isst Tag und Nacht, die Marderfrau verschlingt unverbranntes Opferfleisch (das ist wohl so zu verstehen, dass sie das Fleisch noch vor dem Opfer vom Altar stiehlt, was wiederum zu ihrer diebischen Natur passt10).
Ein Motiv, das ebenfalls mehrmals erscheint, ist Faulheit oder Unwilligkeit zu arbeiten. Das betrifft die Erdfrau, die so faul ist, dass sie nicht einmal im Winter den Stuhl näher ans Feuer zieht, wenn sie friert (oder, je nachdem, welchen Text man liest: die nur den Stuhl näher ans Feuer zieht, anstatt zu arbeiten). Die Eselfrau ist nur mit Mühe dahin zu bringen, dass sie wenigstens die notwendigsten Arbeiten verrichtet, und die Pferdefrau ist zu stolz, um irgendein Arbeitsgerät in die Hand zu nehmen.
Dann gibt es Frauen, die eine Reihe von schlechten Angewohnheiten haben; die Hündin, die grundlos bellt und furchtbar neugierig ist; die Marderfrau ist kleptoman, die Meerfrau aufbrausend, die Pferdefrau eitel. Zwei der Frauentypen wird Inkonsequenz vorgeworfen: Die Füchsin verstellt sich bewusst, je nachdem wie es für sie von Vorteil ist (man weiß also nie, woran man wirklich bei ihr ist), und die Meerfrau ist schizophren (was letztlich auf dasselbe hinausläuft).
Sie werden sich übrigens gefragt haben, was die beiden Elemente unter den Tieren zu suchen haben. Die simpelste Antwort ist die des griechischen Altphilologen Johannes Kakridís, der argumentiert, es habe in der Tierwelt eben kein Tier gegeben, das launenhaft wie das Meer und unbeweglich wie die Erde sei11. Darüber hinaus lag die Erde als Urstoff, aus dem die Menschen geformt wurden, nahe. Aus Erde oder Lehm wurde Pandora geschaffen, und an anderer Stelle heißt es, Prometheus habe die Menschen überhaupt aus Erde geformt. Eine altgriechische Fabel erzählt, dass Prometheus auf Anweisung des Zeus die Menschen und Tiere geschaffen hat (B. E. Perry, Aesopica I. The University of Illinois Press, Urbana [1952] S. 415 Nr. 240.). Als Zeus aber sah, dass viel mehr Tiere existierten als Menschen, befahl er Prometheus, aus einigen der Tiere Menschen zu machen. Mit dieser Fabel wird erklärt, warum einige Männer (!) menschliche Gestalt haben, aber tierische Seelen...
Während im Deutschen "du Hund!" eine Beschimpfung von Männern ist, hat die Hündin im Griechischen eine lange Geschichte als negative Charakterisierung der Frau. Die schöne Helena nennt sich selbst im Epos eine Hündin (Ilias 3, 180; 6, 344/356), und im Neugriechischen sagt man noch heute von einer Frau "skyla" (Hündin) als üble Beschimpfung.
Ein Punkt, der mehrmals angesprochen wird, ist das Sexualverhalten der Frau. Da hat man einmal die Eselsfrau, die es mit jedem treibt [und somit den Mann in die missliche Lage bringt, kleine Eselbastarde durchbringen zu müssen - ganz zu schweigen von der Lästerei der Nachbarn ...], und dann die Marderfrau, die immer nur auf Sex aus ist und dabei physisch so reizlos und widerlich ist, dass dem Mann dabei schlecht wird. Bei der Bienenfrau wird mitten im Lobgesang auf sie plötzlich angeführt, dass sie auch gar nicht gern mit den anderen Frauen zusammenhockt, um über Sex zu tratschen. Sarah Pomeroy macht in ihrem Buch "Frauenleben im klassischen Altertum" (Kröner Verlag Stuttgart 1985, S. 74) darauf aufmerksam, dass die Biene im Altertum für die asexuelle Weise ihrer Fortpflanzung bekannt war.
Noch etwas anderes wird in einiger Ambiguität über die Biene gesagt, nämlich dass die üble Nachrede ihr nicht anhaftet, an ihr abgleitet. Wenn ich jemanden preisen will, dann ist es doch ein zweifelhaftes Lob zu sagen, man könne nichts Schlechtes über diese Person berichten (und wenn doch, so finde das keinen Glauben).
Der Sprachstil ändert sich im Bienenpassus, besonders dort, wo es heißt: "Unter ihr blüht und gedeiht das Leben (gemeint ist der Wohlstand). Als liebende Ehefrau wird sie gemeinsam mit dem liebenden Manne alt, nachdem sie ein edles und berühmtes Geschlecht gezeugt hat. Und herausragend unter allen Frauen ist sie, von göttlicher Anmut umgeben." (V. 85-89) Diese Verse haben fast epischen Geschmack, was besonders komisch sein musste, da ja alles in Jamben gehalten ist, was wir heute leider nicht nachempfinden können; der Zuhörer in der Antike aber hörte das natürlich. Und wenn nach "von göttlicher Anmut umgeben" plötzlich folgt: "Und außerdem sitzt sie nicht gern unter Weibern" etc., dann erinnern auch wir uns wieder daran, dass wir uns im Jambus befinden.
Umso erstaunlicher ist es, wie ernst in der gesamten mir bekannten Forschung der Bienentypus als die ideale Frau genommen worden ist. Was bisher übersehen wurde, ist die Tatsache, dass dieser Text uns einiges über die Frauen sagt, aber mehr noch über die Männer. Über ihre Ängste, z. B. in Bezug auf die weibliche Sexualität und Emotionalität, ihre Unsicherheit im Verhalten gegenüber Frauen, die sie als unberechenbar empfinden (wie das Meer), ihre Angst, manipuliert zu werden (von der Füchsin, die sich immer verstellt), ihr Unbehagen, wenn sie vor anderen von ihrer Frau zurechtgewiesen werden (die bellende Hündin), ihre Angst, selbst lächerlich zu werden durch das Verhalten oder Aussehen ihrer Frau. Das gipfelt beim letzten Typ (der Biene) in der Angst oder der Unsicherheit dem gegenüber, was die Frauen sich wohl untereinander erzählen, wenn keine Männer dabei sind. Dabei tut es nichts zur Sache, dass die Biene dies gerade nicht tut. Das erhöht den komischen Effekt nur. Sicher täten wir Semonides unrecht (meiner Meinung nach ist er hier immer unterschätzt worden), wenn wir ihm unterstellten, er habe diese Ängste nur unbewusst geäußert, und es bedürfe erst einer Frau des 20. Jahrhunderts, um ihn zu durchschauen und "bloßzustellen".
Der Text ist komisch. Der Text ist nicht nur komisch, weil er bestimmten Vorurteilen gegenüber Frauen pointiert überzeichnet in derber Sprache Ausdruck verleiht oder weil er die Frauen mit Tieren in Verbindung bringt. Er ist auch komisch, weil er die Sprachebenen wechselt (z. B. Bienenfrau) und weil er eine gewisse Selbstironie erkennen lässt: Denn die Biene, die muss es in der Welt des Mannes geben, weil es irgendeinen Typus geben muss, der der Mama zugeordnet werden kann. Und die Mama, die ist nicht wie die andern Frauen, die ist "von göttlicher Anmut umgeben". Nicht umsonst werden auch nur bei dieser Frau die Kinder genannt, und sie selbst wird äußerlich in keiner Weise - nicht einmal als schön - beschrieben.12
Der Text des Semonides ist in vielfacher Weise mit der gattungsgeschichtlich späteren Komödie verwandt. Bestimmte Laster der Frauen - wie besonders die Verfressenheit und die Geilheit - werden auch in der Komödie immer wieder thematisiert. Strepsiades, der gebeutelte Ehemann aus Aristophanes' "Wolken", z. B. hat eine "Pferdefrau" geheiratet, die ihm den Sohn verzieht und ihn in Schulden stürzt. Auch die doppelte Ironie findet sich, in allerdings viel ausgefeilterer Form, bei Aristophanes. So spricht in den "Thesmophoriazusen" ("Die Frauen, die das Thesmophorienfest feiern") ein als Frau verkleideter Mann die fürchterlichsten "Selbstbezichtigungen" des weiblichen Geschlechts aus. Bezeichnenderweise ist diese Stelle von (männlichen) Philologen häufig zitiert worden als Beispiel für den "typisch aristophanischen Frauenhass" - ohne dass die Ironie gesehen worden wäre ...
Womit wir beim Thema wären: Auch Semonides ist (zu unrecht) von meist männlichen Kritikern als Frauenhasser bezeichnet worden - misogyn, wie das auf gut Deutsch heißt. 1968 schreibt ein Philologe (W. J. Verdenius, Mnemosyne IV 21 [1968] S. 158) über Semonides' Frauenkatalog: "Hass ist seine Triebfeder, Spott und Warnung sein Ziel." Ich zitiere weiter: "Darüber hinaus besitzt er aber das Vermögen scharfer und nüchterner Beobachtung13, und das macht ihn zu einem Vorläufer der wissenschaftlichen Psychologie." Walter Marg (s. vorige Anm.) schreibt 1938: "Ferner ist typisch der ,Pessimismus'. Er ist nicht ein auswegloser, idealistischer Pessimismus, sondern er ist durch und durch realistisch, ist Lebenserfahrung und Lebensklugheit. Dieser Pessimismus bedeutet frei sein von Illusionen." Ich denke, jetzt wissen wir, wo die echten Frauenhasser sitzen. Die Publikationen zu Semonides' Fragment 7 wären eine Untersuchung seitens der feministischen Männerforschung (falls es so etwas geben sollte) wert.
Der Text des Semonides ist kein Rat an die Männer, bei der Wahl der Ehefrau aufzupassen (nämlich die Biene zu nehmen), und auch keine Geschichte, die besagen soll, dass nur jeder zehnte Mann eine gute Frau "abkriegt". Er ist vielmehr ein Versuch von männlicher Seite, sich die verschiedenen Ungereimtheiten in den Verhaltensweisen der Frauen zu erklären. Und wie so oft, wenn man etwas nicht versteht (oder nicht verstehen will), wird der Ton bissig und die Ausdrucksweise ausfallend. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich nehme Semonides nicht für seine Darstellung in Schutz, ich sage auch nicht, dass er Recht hat (von "genauer Beobachtungsgabe" gar nicht zu reden) oder dass der Text keinen Angriff gegen die Frauen darstelle. Das tut er. Aber er tut es in witziger Form, und es steht jeder von uns frei, das zu tun, was eine Freundin von mir spontan sagte, als sie von Semonides' Text hörte: "Au ja, lass uns einen Männerkatalog schreiben!"*) Bei dem folgenden Aufsatz handelt es sich um einen öffentlichen Vortrag, der auf Anregung der deutsch-griechischen Arbeitsgemeinschaft "Frauen aktiv und kreativ" in einer Veranstaltung der Volkshochschule Berlin-Steglitz gehalten wurde. Der Charakter des Vortrags ist (von geringfügigen Änderungen abgesehen) beibehalten worden. - Die Autorin ist nach abgeschlossenem Studium der Klassischen Philologie und Archäologie in Deutschland und Griechenland z. Z. als Dolmetscherin und Lehrerin für Neugriechisch tätig.
1) Man fragt sich, was die Hoffnung im Gefäß mit all den Übeln zu suchen hat. Doch dies sei nur nebenbei bemerkt.
2) Die Tatsache, dass die biologische Realität sich genau anders herum verhält, was Hesiod offensichtlich nicht wusste (Hesiod - Sämtliche Gedichte. Übersetzt und erläutert von W. Marg, Artemis-Verlag [1970], S. 239), beinhaltet eine natürlich ungewollte Ironie. Allerdings muss erwähnt werden, dass Hesiod das Beispiel der Drohnen an anderer Stelle (Hesiod, Erga 303-306) in verkürzter Form auf faule Männer anwendet.
3) Die fett gedruckten Ziffern geben die Zählung bei Stobaios wieder.
4) Offensichtlich ist damit gemeint, dass sie ganz der Hündin gleicht, der sie entstammt.
5) Konjektur von Schneidewin. West: zieht sie nur ihren Schemel ... - In jedem Fall ist sie ein Ausbund an Faulheit.
6) Lesart von B. Snell, Frühgriechische Lyriker II - Die Jambographen. Akademie-Verlag, Berlin (1972) S. 76 (V. 42); West liest: Das Meer aber ist von anderer Gestalt.
7) homos de kai pros ergon aphrodision / elthont´ hetairon hontinon edexato.
8) Vers 94f. ist in der Übersetzung ausgelassen. M. E. interpoliert in Anlehnung an Hesiod, Theogonie 592.
9) Der Gott der Unterwelt.
10) Vgl. auch Aristophanes, Thesmophoriazusen 558.
11) Eine unbefriedigende Erklärung. Zu diesem Punkt s. Hubbard im oben zitierten Aufsatz (AJP 115, 1994, bes. S. 181ff.).
12) Ich erinnere an dieser Stelle an einen Vers des Euripides, der im selben Kapitel mit dem Semonides-Text bei Stobaios zitiert wird: Melanippe (fr. 498 N. ²) 146 Stob: "Außer der, die mich geboren hat, hasse ich das gesamte weibliche Geschlecht."
13) An dieser Stelle zitiert Verdenius einen anderen Philologen, W. Marg, Der Charakter in der Sprache der frühgriechischen Dichtung (Semonides, Homer, Pindar). Kieler Arbeiten zur klassischen Philologie (1938), S. 37: "Es wird nicht nur gespottet, sondern zugleich durchaus scharf und realistisch betrachtet, und das Übel Weib wird mit bedächtiger Überlegung klar gemacht."INGRID BEHRMANN, Berlin
Friedrich Maier : Latein auf gefestigter Basis in die Zukunft. Ansätze zu einer neuen Begründung des Faches
Die Fächer einer Schule sind so viel wert, wie sie in der Öffentlichkeit angesehen sind. Dieses Ansehen hängt entscheidend davon ab, ob sie im schulischen Fächerkanon eine feste Basis haben oder nicht. Was verschafft einem Fach die Möglichkeit, seinen Sitz in der Schule zu festigen? Zu allererst ist es das Bildungskonzept, das die Schule trägt und bindet. Damit stellt sich die Frage nach dem heute gültigen, also für alle verbindlichen pädagogischen Programm des Gymnasiums. Gibt es ein solches? Wer die Auseinandersetzungen um diese Schulform im letzten Jahrzehnt direkt oder indirekt miterlebt hat, muss hier Zweifel äußern.
Das Gymnasium liegt nicht im Zentrum pädagogischer Lehre und Forschung und wird auch ( woran die Skepsis seiner Vertreter gegenüber aller pädagogischen Theorie nicht ganz schuldlos ist ( in der universitären Auseinandersetzung um die Schule der Zukunft weiterhin eine periphere Rolle spielen. Dies ist auch u. a. auf einem pädagogischen Symposium der Universität Kiel deutlich geworden, das unter dem Thema stand: "Bewährtes weiterentwickeln / Impulse für die Gymnasiale Bildung". Hier sind noch einmal die großen Vordenker des Gymnasiums auf universitärer Ebene zusammengekommen: Kurt Aurin, Erich E. Geißler, Werner Heldmann, Klaus Westphalen. Viel wurde über gymnasiale Bildung gesprochen, ohne dass man sich auf eine gültige Bestimmung derselben verständigte. Die Nachfolge-Generation jener Wissenschaftler, die alle offiziell bereits die Bühne der Universität verlassen haben, befindet sich, sofern sie überhaupt dieser Schulform ihr Interesse zuwendet, offensichtlich in einer Aporie. Was soll wissenschaftlich von Seiten der Pädagogik für eine Schulform geleistet werden, die erkennbar eine pädagogische Grundlegung ablehnt. Es gibt offensichtlich keinen Wissenschaftler mehr, dessen Arbeitsschwerpunkt die Gymnasialtheorie ist. Das Gymnasium hat eine bewährte Tradition, es geht aber allem Anschein nach konzeptlos in die Zukunft.
Wer ist eigentlich für die inhaltliche Gestaltung des Gymnasiums zuständig? Die Ministerien und die ihnen nachgeordneten Lehrplan-Institute? Von diesen ist ( wiewohl ihnen für die gewiss schwierige Aufgabe, ein Bildungskonzept ihrer Schulform zu entwerfen, wie nirgends anderswo die Chance der Zusammenarbeit aller Fachvertreter gegeben ist ( bislang nichts Tragfähiges vorgelegt worden. Bemerkbar in dieser zentralen Problematik macht sich auf weiter Flur nur der Deutsche Philologenverband, also die berufspolitische Vertretung der Gymnasiallehrer. In erfolgversprechenden Hearings und Diskussionsrunden (z.B. in zwei Veranstaltungen in Bonn) wird durch offenen Meinungsaustausch ein Weg für das Gymnasium der Zukunft gesucht. Der Vorsitzende des DPhV, Heinz Durner, engagiert sich beherzt mündlich und schriftlich, Profil und Qualität von Gymnasialbildung aus der Zukunftsperspektive zu beschreiben; was hier an Kriterien, Zielen und Bedingungen formuliert wird (zuletzt in Profil 10/96, 7-11), ist überzeugend und setzt Orientierungsmarken; daraus lassen sich schlagwortartige Argumente für das weitere Gespräch um diese Schulform gewinnen.
Aber ersetzen diese Initiativen das bildungs-theoretische Konzept, das Voraussetzung dafür ist, dass dem Gymnasium die Existenz in der Zukunft gesichert bleibt? Wo ist das klar definierte Programm, das diese Schulform gegenüber den konkurrierenden abgrenzt und als unersetzlich begründet? Man geht wohl nicht fehl, hier ein Defizit zu konstatieren. Dieser Missstand macht es auch den einzelnen Fächern schwer, wenn nicht unmöglich, sich als Teil eines sinnvollen, anerkannten Ganzen zu begreifen und zu rechtfertigen. Für gefährdete Fächer ist dies besonders prekär.
Was ist es, das nach allgemeinem Verständnis das Gymnasium im Innersten zusammenhält? Lässt sich darüber heute überhaupt noch ein Konsens finden? Die Curriculum-Reform hat ( im Rückblick lässt sich dies zweifellos so sagen ( bei aller Bedenklichkeit der ihr zugrunde liegenden Theorie zumindest das eine Gute gehabt, dass für das Gymnasium fachübergreifende, allgemeine "Leitziele" gesetzt wurden, die auch über die Bundesländer-Grenzen hinweg in mehr oder weniger abgeänderter Form Gültigkeit beanspruchen durften (von einigen ideologisch bedingten Abweichungen abgesehen). Vor allem aber hatten die Fächer ein festes, die Schule übergreifendes Bezugssystem, so dass sie sich mit Hilfe der darin verbindlichen pädagogischen Kriterien und Kategorien begründen und organisieren konnten; auch die Alten Sprachen. Die DAV-Matrix von 1972 hat ihren festen Sitz im curricularen System; sie gab dem Fach einen Rahmen vor, in dem es sich neu legitimieren und präsentieren konnte. Es steht heute außer Frage, dass Latein (und in seinem Gefolge Griechisch) damals einen neuen Stand im Gymnasium bekam, ja dass sich von daher der Unterricht zu seinem Guten wandelte. Aus dieser Begründungsmatrix leitete sich die Einheit des Lateinunterrichts her, die sich in Lehrplänen, Lehrwerken, Prüfungsaufgaben u. a. m. manifestierte.
Die Curriculumtheorie ist heute überholt und mit ihr die daraus erwachsene Konzeption gymnasialer Bildung. An ihre Stelle ist nichts getreten, das in ähnlicher Weise Verbindlichkeit für alle beanspruchen könnte. Als immer schwieriger erweist sich in Gegenwart und Zukunft eine Bestimmung für Gymnasialbildung, die konsensfähig werden könnte. Das hat zur Folge, dass sich im Gymnasium gewissermaßen eine pädagogisch-didaktische Wende nach rückwärts vollzogen hat. Haben sich die Fächer von 1960-1980 großenteils aufgrund von außen vorgegebener Ziele begründen und ihr Angebot darauf ausrichten können, so ist man heute, wie überall zu erkennen, zur Innensicht zurückgekehrt. Nicht mehr gilt, was man von den Fächern erwartet, sondern was sie von sich aus bieten. Dass dabei Angebot und Nachfrage wieder weit auseinanderdriften, ist die große Gefahr. Wer bietet mehr? Wer Besseres? Wer Brauchbareres? Der Fachegoismus feiert fröhliche Urständ. Die Alten Sprachen sind wieder in einen bedenklichen Rechtfertigungsnotstand geraten, was sich in den alten Bundesländern am Rückgang der Schülerzahlen, in den neuen am merklichen Stocken im Aufbauprozess des altsprachlichen Unterrichts ablesen lässt.
Gibt es einen Weg aus diesem Dilemma? Fest steht, dass sich Latein (das Führungsfach unter den Alten Sprachen) nur in einer einigermaßen gesicherten Konzeption der Gymnasialbildung mit Aussicht auf Erfolg legitimieren lässt. Also sind ihre fachpolitischen Vertreter in der Pflicht, im Interesse der eigenen Fächer am Gespräch über eine derartige Konzeption engagiert teilzunehmen und, wenn möglich, eigene Vorschläge zu unterbreiten. Im folgenden sei ein Versuch dazu skizziert; dieser kam aufgrund eines Auftrags des Vorsitzenden des DPhV zustande, mit einer kleinen Arbeitsgruppe Überlegungen zu einer zukunftsorientierten Gymnasialbildung anzustellen. Dem gingen lange Studien sowohl der bildungstheoretischen wie auch der zeitanalytischen und zukunftsprognostischen Literatur voraus.
Was erwartet man in der veröffentlichten Meinung von einer Schule wie dem Gymnasium? Als feste Größen in der Bildungserwartung gelten seit je die allgemeine Studierfähigkeit und die vertiefte (umfassende) Allgemeinbildung. Sie sind zu schlagwortartigen Standardbestimmungen geworden. Man versteht beide nicht als verschiedene Zielbereiche, sondern sieht sie eher ineinander integriert. Studierfähigkeit begreift man als einen Teil der Allgemeinbildung. Studierfähigkeit ist wohl leichter zu bestimmen, da man die Ansprüche der Universität eher ausfindig machen kann. Was aber ist unter Allgemeinbildung zu verstehen, zumal wenn sie mit dem Attribut "vertieft" versehen wird? Kann man überhaupt das Allgemeine spezifizieren?
Halten wir zunächst stichwortartig fest, was von verschiedenen Seiten als Aspekte genannt werden, in denen sich die Dimension der "Tiefe", "Vertiefung", der Allgemeinbildung ausprägen könnte oder sollte:
* Souveräne Aneignung und Beherrschung von Wissen
* Optimierung der Denkfähigkeit
* Besitz von Sprach-, Ausdrucks-, Dialogfähigkeit
* Beherrschung von Fremdsprachen
* Einblick in komplexe Zusammenhänge und Vernetzungen
* Fähigkeit, Kultur zu erfahren und Kreativität im Umgang mit Kultur
* Verständnis für und Toleranz gegenüber anderen Kulturen
* Offenheit für spirituelle Erfahrungen
* Bereitschaft, das erste Spiel der Ideen und Imaginationen auf sich wirken zu lassen
* Engagement für den Prozess der europäischen Einigung
* Entschlossenheit, sich mit den Herausforderungen der Zukunft und den Existenzproblemen der
Menschheit auseinander zu setzen
* Modellhafte Deutung der Welt
* Philosophische Durchdringung der Stoffe
* Wertorientierung und Fähigkeit, Werturteile zu begründen
* Verantwortungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft.Wie lassen sich diese sicherlich tragenden Gesichtspunkte in ein sinnvoll geordnetes und begründbares System bringen, das sich zugleich von der pädagogischen Theorie her abstützen lässt? Es bietet sich eine Stufung der Ansprüche an, mit der die Dimension der "Tiefe", "Vertiefung" von Allgemeinbildung gut erschlossen werden kann; diese gestaltet sich folgendermaßen:
Moralisation
Kontemplation
Reflexion
InformationWas soll man darunter - nach der Vorstellung ihrer Vertreter in der veröffentlichten Literatur - verstehen?
Information: Sie markiert die Ebene, auf der umfassende elementare Kenntnisse über die wichtigen Bereiche der Kultur, über das Leben des Menschen, über seine Geschichte, über die ihn umgebende Welt sowie über Bedingungen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Zusammenlebens vermittelt werden. Ihr gehören auch die Fähigkeiten zu, diese Kenntnisse zu ordnen und im eigenen Interesse und zum Nutzen der Gemeinschaft einzusetzen. Sprachwissen und Sprachfähigkeit (auch als Argumentationsfähigkeit) liegen gleichfalls auf dieser Ebene.
Reflexion: Sie markiert die Ebene, auf der sich die Fähigkeiten entwickeln, Wissen auf höherer Ebene zu verknüpfen, die Zusammenhänge der das Leben und die menschliche Gemeinschaft konstituierenden und tragenden Systeme denkend zu erfassen ("Vernetztes Denken"). Damit verbunden ist auch die Fähigkeit zu Abstraktion und Theoriebildung, die zu allgemeineren, nicht der Oberfläche und dem Augenblick verhafteten Erkenntnissen führt, ebenso die Fähigkeit zu geistiger Unabhängigkeit und zu einer Haltung der Distanz, auch dazu, gültige Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, und die Bereitschaft, diese anzuerkennen.Kontemplation: Sie markiert (oft mit Meditation gleichgesetzt) die Ebene, auf der sich die Fähigkeit entwickelt, sich zuweilen aus den Zwängen funktionaler Rationalität, wie sie einem nur technologischen und technokratischen Denken eigen ist, zu lösen und den Rückzug auf sich selbst und in sich selbst zu gewinnen. Sie erschließt die Möglichkeit, eine Position einzunehmen, von der aus der Mensch einerseits seine geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte in die Balance bringen und sich auch zu schöpferischer, spontaner Aktivität freimachen kann, von der aus ihm andererseits die Konsequenzen seines Tuns oder Nichttuns, letztlich - auch mit Hilfe tradierter Erfahrungen - die Sinnhaftigkeit seines Lebens bedenkenswert erscheinen, in ideeller, auch in religiöser Hinsicht.
Moralisation: Sie markiert die Ebene, auf der die begründete Einsicht Raum gewinnt, dass der Mensch sich im Laufe der Geschichte als einziges Wesen der Schöpfung zu moralischer Wertung seines Tuns (als animal morale) fähig erwiesen hat. Das schließt die Erkenntnis ein, dass dem Menschen aus der Pflicht zu moralischem Urteil Verantwortung für sich selbst und für andere erwachsen soll, dass der Mensch als moralisches Wesen seine Existenz letztlich in der Gemeinschaft sichern und begründen kann (als animal sociale). Als Konsequenz soll sich die Einsicht ergeben, dass um den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft (den Schlüsselproblemen) gewachsen zu sein, es zum intellektuellen Potential hinzu eines allgemein verbindlichen Wertkodex bedarf.
Diese Anordnung der Zielvorstellungen in vier Ebenen ist freilich nur ein Konstrukt, das Übersicht und Gliederung ermöglichen soll. Eine scharfe Abgrenzung gegeneinander ist nicht möglich. Deutlich wird aber daran, dass die Ebenen in einer hierarchischen Folge stehen; dabei ist für die nachfolgende Ebene immer die darunterliegende vorausgesetzt. Reflexion ist nur auf der Grundlage von Wissen möglich, je abstrakter eine Theorie, umso mehr und differenzierter sind die ihr zugrunde liegenden Informationen. Kontemplation bedarf des Wissens nicht weniger als der Denkfähigkeit in einer besonderen Weise; man spricht in diesem Zusammenhang heute von der Notwendigkeit einer "emotionalen Intelligenz". Die moralische Bedingtheit menschlichen Handelns und Verhaltens ist nur zu ergründen und zu begründen mit Hilfe von Wissen, Denken und Besinnung. Je höher und folgenschwerer die Verantwortung (bes. etwa in den Naturwissenschaften, in der Technik oder in der Rechtswissenschaft), desto breiter und tiefer muss das von jenen Elementen gebildete Fundament angelegt sein.
Von der Intensität dieser vier Anspruchsebenen hängt die "Vertiefung" der davon getragenen Allgemeinbildung ab. Die generellen Ansprüche an eine vertiefte Allgemeinbildung sind für ein praktikables Konzept gymnasialer Bildung konkreter auszudifferenzieren. Es sollen sich darin in etwa auch die vorausgehend stichwortartig angegebenen Erwartungsschwerpunkte niederschlagen. Wichtig ist festzuhalten, dass von der ersten bis zur vierten Ebene zunehmend die Fähigkeit zu einer geistigen, philosophischen Durchdringung der Stoffe, Inhalte, Fragestellungen bestimmend wird und sich die Dimension der Tiefe, Vertiefung von Allgemeinbildung gerade darin wesentlich erschließt. Die ethisch-philosophische Orientierung könnte das geistige Band sein, dass die Fächer des Gymnasiums von innen her zusammenhält.
Dass dieses in einzelnen methodischen Schritten erarbeitete Konzept gymnasialer Bildung allgemeinen Erwartungen nicht zuwiderläuft, mag eine neue Definition von Bildung zeigen, die der Pädagoge und Bildungskritiker Volker Ladenthin in der Süddeutschen Zeitung 1995 versucht hat. Diese ist zwar, da sie u. a. die kulturelle Dimension nicht berücksichtigt, kaum ausreichend, sie deutet aber in etwa wichtige und tragende Aspekte der hier vorgelegten Bestimmung an:
"Bildung wäre nunmehr zu verstehen als die Fähigkeit, die Welt selbständig zu erkennen und sich in ihr zurechtzufinden. Dazu gehört es sicherlich, sich mit den anstehenden Problemen der Welt zu beschäftigen - sei es Gen-Technik, Umweltschutz, Multikulturalität, Kunst der großen Politik, oder sei es die Sanierung des eigenen Stadtteils, die Erhaltung von Lebensqualität in der näheren Umwelt. Aber diese Kenntnisse, dieses Wissen reichen allein nicht aus. Gebildet ist nur der, der es versteht, sich verantwortungsvoll und wertend zu den anstehenden Zeitfragen zu verhalten."Gegenwärtige Bildungsdiskussion
Inhalte Gymnasialer Bildung
Konsequenzen für die innere AufgabenstellungDas Gymnasium schafft die Voraussetzungen dafür, den Ansprüchen einer hochtechnisierten Gesellschaft und der Forderung nach Spitzenleistungen zu genügen. Es vermittelt die "vertiefte Allgemeinbildung", die für ein Hochschulstudium vorausgesetzt wird; zugleich schafft es auch Grundlagen für eine berufliche Ausbildung außerhalb der Hochschule.
Vertiefte Allgemeinbildung bedeutet nicht eine beliebige quantitative Ausweitung des Lehrstoffes oder der Zahl der Unterrichtsfächer: Vielmehr soll ein qualitatives Anspruchsniveau angestrebt werden, das über vier Ebenen an passenden Stoffen und Aufgaben ( von den einzelnen Fächern aus und in Zusammenarbeit der Fächer ( erreicht werden kann.
1. Gymnasialbildung vermittelt umfassendes Wissen und zielt auf die Ordnung der Vorstellungswelt.
Sie organisiert und systematisiert das Wissen der Schüler, das sie bereits besitzen und das in den einzelnen Fächern erweitert und differenziert angelegt wird oder ganz neu hinzukommt, in geschlossenen, Übersicht ermöglichenden Rahmenkonzepten, die von der jeweiligen Fachstruktur vorgegeben sind. Sie verdeutlicht die Elemente dieses Wissens in ihren tieferen und übergreifenden Zusammenhängen. Medium dazu sind die Sprache (als Mutter- und Fremdsprache) und die anderen Zeichensysteme, die eine Systematisierung in naturwissenschaftlichen Denkmodellen und in mathematischen Ordnungsrastern sowie in mythologisch-symbolischen Grundmustern gewährleisten. In diesem umfassenden Wissen ist der vertraute Umgang mit der eigenen Sprache und die Kenntnis anderer Sprachen eingeschlossen.
2. Gymnasialbildung vermittelt die Fähigkeit zu Abstraktion und Theoriebildung und zielt auf das Erfassen komplexer vernetzter Zusammenhänge sowie Entwicklung von Innovationsfreude und Kreativität.
Sie trainiert an den komplexen symbolischen Systemen von Sprache und Mathematik das Denken und regt ständig an, über die den Fachstoffen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten und über deren tiefere Beziehung zu verwandten Fächern methodisch gezielt zu reflektieren. Sie schärft den Blick für Zusammenhänge in globaler Vernetzung. Das Erfassen und Durchschauen kausallogischer Bezüge wird ebenso geschult wie das Durchspielen von Problemlösungsverfahren. Es wird dabei zunehmend auch Raum zur Entwicklung und Verwirklichung von Innovationsfreude und kreativer Phantasie gegeben.
3. Gymnasialbildung vermittelt die bewusste Erfahrung der eigenen Kultur und der Kultur Europas und erzieht zu prinzipiellem Fragen.
Sie macht vertraut mit Entwicklungen der Geschichte und vermittelt Werte der Literatur und Kunst mit solcher Intensität, dass im intellektuellen wie emotionalen Zugriff erfahrbar wird, inwiefern sie sich für die eigene Kultur und die Kultur Europas als konstitutiv erwiesen haben. Solche Kulturerfahrung macht eigene Identitätsfindung möglich und befähigt, - auch auf der Grundlage von Sprachkenntnissen - fremden Kulturen vorurteilsfrei gegenüberzutreten, so dass die bestehende Isolation der Weltkulturen allmählich überwunden werden kann.
Sie macht außerdem bewusst, inwiefern die großen Werke der Literatur und Kunst als Möglichkeiten der Deutung und Gestaltung des Menschlichen dem nach Sinn suchenden Menschen Orientierung geben können. Die Fragen des Was? Wie? Warum? Wozu?, anfängliche Fragen der Philosophie, sind ein Signum gymnasialen Arbeitens, das nicht oberflächlich ausgerichtet bleibt, sondern die tieferen Gründe des Lebens- und Erkenntnisdranges des Menschen - auch in ihrer metaphysisch-religiösen Bedeutung - aufschließt.
4. Gymnasialbildung vermittelt das Vermögen, die Existenzprobleme der Menschheit zu erkennen, und erzieht zur Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Sie zeigt an Geschichte und Gegenwart die die Menschheit beherrschenden Probleme auf, deren Lösung den heutigen und kommenden Generationen aufgetragen ist. Sie macht auf die sich aus dem unaufhaltsamen Wandel menschlicher Lebensbedingungen ergebenden Herausforderungen der Zukunft aufmerksam. Sie verdeutlicht, dass die Leistungen des menschlichen Geistes einerseits zur Wahrung und Förderung des zivilisatorischen Standards gefordert sind, andererseits vielfach Schwierigkeiten mit sich bringen, die die Existenz des Menschen bedrohen können. Dadurch sollte bewusst werden, dass an den kritischen Grenzen Entscheidungen von ethischer Relevanz zu treffen sind, die neubetonte Wertkategorien voraussetzen. Nicht alles, was in technischer Hinsicht machbar ist, ist auch ethisch vertretbar. Die Fähigkeit, in solchen Problemsituationen die Verantwortung des Menschen zu erkennen, und die Bereitschaft, diese Verantwortung im Kleinen wie im Großen persönlich zu übernehmen, erweisen sich als Leitziele gymnasialer Bildungsarbeit.
Sollte sich also das aus dem skizzierten Konstrukt gewonnene oder von daher bestimmte Konzept gymnasialer Bildung als stimmig erweisen und, wofür die Reaktionen auf seine bisherigen Vorstellungen in Vorträgen und Teilpublikationen sprechen, konsensfähig werden, so wäre ein Rahmen gewonnen, in dem die Gymnasialfächer ihr Selbstverständnis neu finden und ihren Beitrag zur Leistung dieses Schultyps in gegenseitiger Abstimmung neu definieren könnten. Auch für den Lateinunterricht (und dem Griechischunterricht) ergäbe sich die Chance, sich im Gymnasium neu einzurichten und zu bewähren. Deshalb ist hier ein Entwurf angefügt, in dem die Ziele und Leistungen eines modernen Lateinunterrichts aus neuer Sicht beschrieben werden; diese bieten sich beim Lernen der lateinischen Sprache und in der Begegnung mit der von ihr geprägten Literatur und Kultur als fachübergreifender Beitrag zu einem zukunftsorientierten Konzept gymnasialer Bildung an.
Fachübergreifende Ziele und Leistungen eines modernen Lateinunterrichts
1. Umfassendes Wissen und Ordnung der Vorstellungswelt
(ORIENTIERUNGSWISSEN)
1.1 Aneignen von sprachlichem Wissen
a) Steigerung der muttersprachlichen Kompetenz
b) Förderung der Sicherheit in fremder Terminologie
c) Erhöhte Disponibilität zum Erlernen moderner Sprachen Europas
1.2 Vertrautmachen mit Literaturwissen
a) Kennenlernen von anerkannten Stilmustern und Literaturformen
b) Erfahren von standardisierten Figuren, Motiven, Themen der europäischen Literatur
c) Erfassen von mythologisch-symbolischen Grundmustern im europäischen Denken
2. Abstraktion und Theoriebildung - Erfassen komplexer Zusammenhänge
(KOMPLEXES DENKEN)
2.1 Annäherung an die Sprache als einem Modell
a) Linguistischer Umgang mit Sprache an ihren Aufbauelementen
b) Sprachvergleich als Voraussetzung von Sprachenverstehen und Völkerverständigung
c) Erfahren der Grenzen des Übersetzens als Beleg für die unaufhebbare Identität der Völker
2.2 Einblick in den systematischen Aufbau einer Sprache
a) Erfassen des funktionalen Vernetzungssystems von Sprache
b) Erkennen der Zusammenhänge der im TEXT verlebendigten Sprache
c) Bewusstwerden des Zusammenhangs von Sprache und Denken
3. Erfahrung der Kultur Europas - Prinzipielle Fragen
(OFFENHEIT FÜR SINNFRAGEN)
3.1 Kennenlernen der Wurzeln Europas
a) Begreifen der eigenen Kultur als Ergebnis einer langen Tradition
b) Einsicht in die identitätsstiftende Kraft der antik-römischen Kultur
c) Vertrautwerden mit dem europäischen Paradigma als Voraussetzung für den multikulturellen Dialog
3.2. Erkennen des Ursprungs von Kultur
a) Einsicht in das uralte Bemühen des Menschen um Erkenntnis seiner Herkunft und um Verbesserung
seines Standards für die Zukunft
b) Konfrontation mit dem intellektuellen Engagement des Menschen,
den Dingen auf den Grund zu gehen
c) Einblick in zeitlos gegebene Möglichkeiten, die Frage nach Sinn und
Orientierung in der Welt zu lösen
4. Existenzprobleme der Menschheit - Fähigkeit und Bereitschaft zu Verantwortung
(WERTBEWUSSTSEIN und VERANTWORTLICHKEIT)
4.1 Bewusstwerden der Existenzfragen der Menschheit
a) Auseinandersetzung mit den eher zeitlosen Problemen wie Krieg und
Frieden, Ringen um die beste Staatsform
b) Auseinandersetzen mit den mehr aktuellen und zukunftsbezogenen Problemen
wie Natur und Umwelt, Wort und Bild, Freizeit und Beruf
c) Konfrontation mit philosophisch diskutierten Existenzfragen
4.2 Einüben in Verantwortlichkeit
a) Erfahren von Krisensituationen der römischen und von Rom beeinflussten
europäischen Geschichte, in denen verantwortliches Handeln gefordert war
b) Aufsuchen von Analogien der Verantwortungssituationen in Geschichte und Gegenwart
c) Einübungen in Verantwortlichkeit in konkreten Unterrichtsprojekten im
Lateinunterricht oder des Lateinunterrichts in Zusammenarbeit mit anderen Fächern
Da kaum anzunehmen ist, dass das skizzierte Konzept gymnasialer Bildung in seinem Kern auf Ablehnung stößt, gewinnt das darauf abgestellte Fachkonzept eine gewisse Sicherheit und Plausibilität. In diesem ist der Horizont eines Lateinunterrichts entworfen, der sich im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft zu rechtfertigen in der Lage ist; er erweist sich im Gymnasium als integrationsfähig. Die Beschreibung der Ziele und Leistungen des Faches erfasst freilich ein Maximalprogramm; niemand sollte sich davon verunsichern und entmutigen lassen. Die jeweils angegebenen Möglichkeiten (Lehrgangsform, Stundenzahl, Schülerwissen u.a.) setzen Grenzen. Aber es sollten von diesem Konzept doch intensive Impulse für die Gestaltung des Unterrichts ausgehen; denn alle haben dadurch die Gewähr, dass sie im Rahmen eines in das Gesamtprofil des Gymnasiums eingeordneten Konzepts sinnvolle Arbeit leisten. Das könnte auch ihre Zuversicht wachsen lassen, auf einem einigermaßen festen Boden mit ihrem Fachangebot in die Zukunft zu gehen.
FRIEDRICH MAIER, Berlin
Michael P. Schmude : Latein für das 21. Jahrhundert. Grundlagenfach eines europäischen GymnasiumsDie folgenden Überlegungen haben sich aus zahlreichen Informationsveranstaltungen, Gesprächen wie Vorträgen, die in den letzten Jahren am Johannesgymnasium Lahnstein (mit alt- und neusprachlichem Zweig) zu Latein als erster (alternative: Englisch), zweiter (Alternative: Französisch) und auch dritter Fremdsprache unternommen wurden, herausgebildet; Gesprächs- und Vortragsstil (vor Schülern wie Eltern) sind weitgehend beibehalten.
Beabsichtigt ist, in konzentrierter, doch zugleich möglichst vollständiger Weise Gesichtspunkte und Anliegen zusammenzutragen und aus diesen eine Argumentation zu entwickeln, mit welcher man für das Gymnasialfach Latein eintreten und werben kann. Ausgegangen wird von Latein als erster Fremdsprache. Für einen späteren Einsatz bzw. je nach den besonderen Gegebenheiten der einzelnen Schule, aber auch, ob man vor Eltern oder vor Schülern (unterschiedlichen Alters) spricht, wird man Teile des Textes anders gewichten. Er versteht sich (im Sinne meiner Vorbemerkungen zum Fach Griechisch in MDAV 3/95, S. 103ff.) als Hilfestellung und Handreichung für die mühseligen, aber notwendigen "Existenzrechtfertigungsdebatten", welchen sich die Alten Sprachen an der Schule seit geraumer Zeit ausgesetzt sehen.Liebe Schülerinnen und Schüler,
sehr geehrte Eltern,
unter zwei Vorzeichen mag sich euch/Ihnen die Frage stellen, warum Latein als erste Fremdsprache gewählt wird: Latein ist zum einen (unbestritten) die Basissprache Europas - dazu später - , gleichwohl begegnet man zum anderen immer wieder dem Einwand, was man denn damit anfange, was man davon habe, wofür man das gebrauchen könne, was es einem denn nütze, eine - angeblich - "tote" Sprache zu lernen.
Einmal abgesehen von der überaus lebendigen Wiedergeburt, die das Lateinische erlebt, sobald man in eine andere europäische Fremdsprache hineinhört, wird hier zunächst ein Blick in Nachbarfächer helfen: Differentialrechnung, Kurvendiskussion oder Vektoren - welche berufliche Nutzanwendung beschert beispielsweise die Mathematik, welchen konkreten, zählbaren Gewinn bringt das - unverzichtbare - Abiturwissen in diesem Fach? Und stellt sich für viele Themen in weiteren Schulfächern wie Erdkunde, Biologie oder Geschichte, ohne die eine Allgemeine Bildung eben keine mehr wäre, die gleiche Frage nicht ebenso? Was "bringt es", die klimatischen Verhältnisse am Äquator, Fauna und Flora der westsibirischen Taiga oder aber die Revolution in Deutschland von 1848 kennen gelernt zu haben?
Geht es nicht vielmehr darum, welche sehr wohl erwünschten Auswirkungen und Veränderungen die Beschäftigung mit einem Schulfach in unseren Köpfen, unserer Gedankenwelt erzielt, "angerichtet" hat, in welcher Weise sie uns geformt, geschult - gebildet hat? Greifen wir nicht in späteren Jahren wie selbstverständlich auf Denkanlagen und -modelle zurück, für die wir sehr dankbar sind, dass wir über sie verfügen, ohne uns noch bewusst zu sein, wo wir sie vermittelt bekamen - logisches Denken und systematisches Strukturieren - notwendig und wertvoll für jede berufliche Tätigkeit, über-fachliche Fähigkeiten (nicht nur, aber doch in erheblichem Maße) aus dem Latein- und dem Mathematikunterricht am Gymnasium.
Ganz anders als bei den neuen Sprachen, deren Gebrauchswert man mühelos, in wenigen Sätzen auf jedem Plakat griffig propagieren kann (und doch gar nicht muss, da er außerhalb jeder Frage steht), liegt der "Nutzen" des Lateinischen nicht von vornherein und so vordergründig auf der Hand: er tut sich erst demjenigen auf, welcher sich (und immer auch erst, nachdem er sich) darauf eingelassen hat.
Dass Latein freilich "schwerer" sei als andere Sprachen, gehört in den Bereich der Sage: jede Spracherlernung stellt auf ihre Weise Anforderungen, Vokabeln und unregelmäßige Verben gehören nun einmal dazu wie mathematische Regeln oder Formeln in Physik und Chemie ( - vor einer Schwierigkeit nicht gleich davonzulaufen, sondern sich einer Anforderung auch einmal zu stellen und "durchzuhalten", ist im Übrigen nicht das schlechteste Erziehungsziel). Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der klare, durchstrukturierte Aufbau der lateinischen Sprache ein stufenweises und systematisch-analytisches Erlernen möglich macht mit dem Ziel darauffolgenden Literaturunterrichtes, während in den Neuen Sprachen ein unmittelbarer, unreflektierter Zugriff auf die Kommunikationsfähigkeit, ein "Parlieren" angestrebt wird - dabei ist es eigentlich müßig, darauf hinzuweisen, dass in allen Unterrichtsfächern die gesetzten Ziele in durchaus unterschiedlichem Maße auch erreicht werden.I. Latein als Muttersprache Europas - Basisvokabular und Modellgrammatik
Bekanntlich haben sich die heute gesprochenen Neuen Sprachen Mittel- und Südeuropas aus dem umgangssprachlichen Alltagslatein des 5. und 6. Jahrhunderts herausgebildet, sind im eigentlichen Sinne regionale, später nationale Dialekte des spätantiken Vulgärlateins. Neben dem Vokabular, welches in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch zu über achtzig Prozent, im Englischen zu zwei Dritteln aus dem Lateinischen stammt, sind auch die einzelnen Grammatiken lateinische geblieben; nicht zuletzt unsere eigene, deutsche Grammatik lässt sich von der lateinischen her erst recht erschließen. Der umfangreiche Bestand an Fremd- und Lehnwörtern im Deutschen allgemein, in den einzelnen Fachsprachen insbesondere, sowie an naturwissenschaftlich-medizinisch-technischem Vokabular (Computer - Informatik - Processor u. a. m.) ist direkt oder indirekt ein lateinischer.
Man kann das lateinische System als klarstes Modell dafür nutzen, aus welchen Elementen Sprache überhaupt besteht, wie sie aufgebaut ist und funktioniert, als sprachlichen Setzkasten, in dessen einzelne Kammern man neben die lateinischen Ausgangsfiguren die jeweiligen deutschen Entsprechungen einordnen wird, sodann diejenigen im Englischen, Französischen, Spanischen ... usw. Diese Form grammatikalischer Behandlung eines sprachlichen Systems als Fundament und Ausgangspunkt, als Schlüssel für das Erlernen weiterer, hiervon abgeleiteter Sprachen wird allein im Fach Latein betrieben, während sie im neusprachlichen Unterricht bewusst in den Hintergrund gerückt ist. Man hört häufiger, dass Latein als Sprache stehen geblieben sei, dass hier nichts Neues mehr komme - genau dies macht Latein als allgemeinverbindliches, sprachliches Grundlagenmodell umso tauglicher!II. "Logisches Denken"
Latein erzieht von Beginn an zu aufmerksamem Hinsehen und genauer Einordnung des Beobachteten, Grundlagen für jeden analytischen Umgang mit zunächst einmal fremden Texten. Diese Art sorgfältiger Sprachreflexion schult eine Erfahrung gesprochener wie geschriebener Einheiten, deren einzelne Elemente nach festgelegten Kategorien geordnet und systematisch aufeinander bezogen sind - Grammatik im besten Sinne als Grundlage einer Sprachbetrachtung auch in den Tochtersprachen Europas.
Dass gerade bei der Übersetzung ins Deutsche, die niemals eine wortwörtliche sein kann (und will), stets um den bestmöglichen Ausdruck, eine treffende, den Sinn präzise wiedergebende Wendung "gerungen" werden muss, führt zu einem deutlichen Mehr an muttersprachlicher Kompetenz, Ausdrucksvielfalt und Sprachgefühl. Eine angemessene Wiedergabe lateinischer Satzbauteile und -konstruktionen, die im Deutschen keine deckungsgleiche Entsprechung haben, trainiert ein hohes Maß an Abstraktions- und Übertragungsfähigkeit (Transfer) beim Auffinden des sinngemäßen Pendants im Deutschen.
Die regelmäßige interpretatorische Arbeit im Lateinunterricht bildet methodisch die Fähigkeit aus zur systematischen Analyse, zu gedanklicher Gliederung, Schlussfolgerung und Darstellung von Texten auch der eigenen, deutschen Literatur. Und damit ist zugleich das Stichwort gegeben, welches zum entscheidenden, freilich erst längerfristig und oftmals indirekt wirksamen "Nutzen" des Lateinunterrichtes führt - zum Methodenwissen, welches fachunabhängig für einen späteren Hochschulgang zu einer weitaus höheren, allgemeinen Studierfähigkeit führt als jede fachspezifisch erworbene Detailkenntnis in einem naturwissenschaftlichen Leistungskurs.
Latein als Denkschule, als "Trimm-Dich-Pfad" für die "kleinen grauen Zellen", als Ausweis von Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit, von geistiger Beweglichkeit und Durchhaltevermögen ist nicht das schlechteste Zeugnis persönlicher Leistungsbereitschaft für Vorstellungsgespräche gerade bei Unternehmen der freien Wirtschaft: Spezialist wird man in jedem Beruf von allein - und das wissen dort auch die Personalchefs.III. Grundlagenliteratur und -kultur Europas
Nicht zuletzt aber ist die lateinische Literatur, zu welcher die lateinische Sprache über das vorher gesagte hinaus gleichfalls führt, für unsere europäische Literatur stets und nach wie vor prägend geblieben - Horaz für die lyrische, Vergils Aeneis für die epische, Plautus, Terenz und Seneca für die dramatische Dichtung (alle in der Nachfolge und als Vermittler griechischer Originale), in mehreren Prosadisziplinen Cicero: das von den Griechen herkommende System der antiken Rhetorik (in der schriftstellerischen Theorie wie in der politischen Praxis seiner Gerichts- und Staatsreden), die Staatsentwürfe (mit ihren vielfältigen Fragen nach dem Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte, nach dem Kreislauf der Verfassungsformen [Monarchie, Aristokratie, Demokratie sowie ihren Entartungen], nach dem Verhältnis von Macht und Recht, dem Konflikt von Ethos und Nutzen, der Verantwortung des Einzelnen gegenüber den Belangen der Allgemeinheit), der Kanon römischer Jurisprudenz, die philosophischen Systeme Epikurs, der Akademie Platons, des aristotelischen Peripatos und der Stoa sollten in einem ersten Schritt in lateinischem Gewand seinen römischen Landsleuten vermittelt werden, stehen durch diese lehr- und schulmeisterliche Großtat aber auch heutiger Betrachtung und kritischer Weiterentwicklung zur Verfügung.
Die Haltung des Stoikers Seneca unter einem tyrannischen Regime, seine Bewertung der Lebenszeit wie seine Haltung zum Tod, Glück und Freiheit des Menschen gegenüber Göttern und Schicksal, die gelassene Souveränität der Individualseele: formuliert werden hier grundlegende Daseinsfragen, welche zeitlos geblieben sind - im Kontrast zu ihrer Zeit und Lebenswelt sehen wir die eigene klarer, in der Auseinandersetzung mit ihren zeitbedingten Antworten finden wir Orientierung auf dem Weg zu eigenen. Im ständigen "Sich-Reiben" an den Lebensmodellen der 2000 Jahre entfernten und doch so nahegebliebenen Antike erschließen wir uns unabhängig von modischen Trends und Mainstreams und eigenständig gegenüber Parolen und Einflüsterungen eines beliebigen Zeitgeistes das uns je Zuträgliche ( - diese kritische Individualität und geistige Souveränität hat die Vertreter der Alten Sprachen und ihrer Literaturen besonders totalitären Menschheitsbeglückern von links bis rechts stets suspekt gemacht).
Die mythologische Welt der Metamorphosen Ovids ist allen Gattungen der Bildenden Kunst ein motivischer Steinbruch gewesen, Geschichtsschreibung (Sallust, Livius, Tacitus) findet bis in die (frühe) Neuzeit in lateinischer Sprache statt, die kaiserzeitliche Architektur Vitruvs bleibt Grundlage für die moderne Baukunst ebenso wie Quintilians Ausbildung des Redners für die Entwicklung der Rhetorik oder der spätantike Codex Iustinianus für das europäische Rechtswesen. Römische Alltagskultur und Öffentlichkeit, privates wie staatliches Leben, in der Antike in alle Teile des Imperium Romanum getragen, geben das Muster für die spätere, gemeinsame europäische Entwicklung vor; diese Linien werden im Lateinunterricht aller Klassenstufen anschaulich gemacht, und entsprechende Sachkapitel begleiten von Beginn an bereits die Spracherlernung.
Nehmen die angesprochenen Themen aus Philosophie, Staatslehre, Wirtschaft, Kultur u. a. in Latein auch breiten Raum ein, so sind sie gleichwohl auf dieses Fach gar nicht zu beschränken: die ganze Vielfalt abendländischen Geisteslebens, dessen antike Grundlagen den Untergang des Römischen Reiches überlebt haben, in der karolingischen Renaissance wie in der des Quattrocento und im Humanismus wiederaufgenommen wurden, wird mit lateinischem Schlüssel fächerverbindend erst wirklich eröffnet.
Dabei ist das Lateinische über das gesamte Mittelalter bis tief in die Neuzeit die Lingua franca der Historiker, der politischen wie philosophischen Literaten, des gesamten grenzüberschreitenden intellektuellen Lebens Europas gewesen (nicht zuletzt der Geschichtswissenschaftler findet seine Originalquellen in dieser Sprache vor, und neusprachliche Übersetzungen - wenn es denn überhaupt solche gibt - können nie mehr als nur ein Notbehelf sein). Dem entspricht, dass zu einem modernen Unterricht auch Texte des lateinischen Mittelalters und darauffolgender Jahrhunderte gehören. Als besonderes "Krönchen" für Latein als "Roten Faden" Europas sei schließlich darauf hingewiesen, dass diese - wirklich tote? - Sprache noch bis tief in unser 20. Jahrhundert das alle nationalen Sprachbarrieren überwindende Medium an den Universitäten geblieben ist und in der Bewegung der modernen Latinitas viva auf (nur für manch einen) verblüffende Weise den Nachweis erbringt, diese Rolle noch in unseren Tagen mit ungebrochener Vitalität und ciceronischer Eleganz spielen zu können ... - kurz:IV. Formale und materiale Bildung
Die Frage nach Latein ist letztlich die Frage nach dem Stellenwert, den man einer Allgemeinen Bildung einzuräumen bereit ist vor einer kurzfristig angelegten, sicher nützlichen, aber auch auf anderen als den schulisch-gymnasialen Wegen angebotenen Ausbildung, welche Gegenstand des berufs- oder auch realschulischen bzw. nach-gymnasialen Bereiches ist und auch bleiben sollte. Dabei habe ich hier die Frage des Latinums für alle sprachlichen wie historischen und philosophischen Studienfächer bis zur Medizin einmal bewusst ausgeklammert.
Wer die Zukunft seiner Lebenswelt angehen möchte, sollte sich über ihre Herkunft und deren Gesetzmäßigkeiten im Klaren sein, um hieraus wiederum Maßstäbe für eigenes Handeln zu gewinnen. Und im Blick auf das - zu Recht, aber oftmals oberflächlich - vielzitierte Europa lässt sich kaum ein Schulfach europäischer anwenden und verstehen als das allgemein bildende, abendländische Grundlagenfach Latein.MICHAEL P. SCHMUDE, Boppard
Franz Strunz : Voltaire und Euhemeros
Voltaire schrieb im Jahre 1777, ein Jahr vor seinem Tod (er war 83 Jahre alt), die "Dialogues d' Evhémère". Der Name des griechischen Mytho- und Historiographen, Theologen und Aufklärers aus Messene (niemand weiß, ob aus dem sizilischen oder dem peloponnesischen) kommt bei dem französischen Philosophen, außer in diesem Werk, nur ein einziges Mal vor und so verwundert sein Erscheinen in der längeren Schrift aus seiner letzten Lebenszeit. Was hat den Patriarchen von Ferney dazu bewogen, in einem seiner größeren Dialoge, die formal, wie die Wielands, Fontenelles und vieler anderer Zeitgenossen, auf Lukian von Samosata zurückgehen, Euhemeros als führenden Dialogpartner einzuführen?
Versuchen wir zuerst, die Gestalt des Griechen in greifbare Konturen zu bringen. Das gelingt nicht eben leicht. Er wird zwar des öfteren zitiert, sein Hauptwerk jedoch, die hiera anagraphe, geschrieben zwischen 300 und 280 v. Chr., ist verloren. Das Interesse an dieser Schrift blieb jedoch stets aus den erhaltenen Fragmenten (Vallauri 1956) lebendig. Ennius bereits war von dem Inhalt des Buches so angetan, dass er es als "sacra historia" (oder "sacra scriptio"), die vielleicht ein Gedicht war, ins Lateinische übersetzte. Da besonders die Kirchenschriftsteller aus sogleich ersichtlichen Gründen eifrig daraus zitieren, ist Euhemeros, zusammen mit den größeren Fragmenten, die Diodor in sein Geschichtswerk eingereiht hat, für uns einigermaßen fassbar.
Der weit gereiste Euhemeros entführt den Leser in einer romanartigen Rahmenerzählung auf die Insel Panchaia im Indischen Ozean, wo er an einer Säule des dortigen Zeustempels eine heilige Inschrift entdeckt zu haben berichtet, aus welcher er dem Leser die Taten des Zeus zitiert, wie dieser sie selbst aufgeschrieben hat. "Euhemeros ... res gestas Iovis et ceterorum qui dii putantur collegit historiamque contexuit ex titulis et inscriptionibus sacris quae in antiquissimis templis habebantur maximeque in fano Iovis Triphyllii, ubi auream columnam positam esse ab ipso Iove titulus indicabat, in qua columna sua gesta perscripsit, ut monumentum posteris esset rerum suarum" (Vallauri, S. 25). Fünfmal habe Zeus den Erdkreis umrundet ("quinquies terras circumivit", S. 42), habe seinen Nächsten ("amicis atque cognatis", ebd.) seinen Willen ("imperia", ebd.) vermittelt und sich als Wohltäter und Überbringer von Künsten dem Dank des Volkes anempfohlen ("hominibus leges mores frumentaque paravit multaque alia bona fecit", ebd.). So habe er sich unsterblichen Ruhm bei den Menschen geschaffen ("inmortali gloria memoriaque adfectus", ebd.) und ewige Denkmäler seiner selbst ("sempiterna monumenta sui", ebd.) hinterlassen. Danach sei er im Alter ("aetate pessum acta", ebd.) nach Kreta gereist, habe dort sein Leben beendet und sei unter die Götter aufgenommen worden ("vitam commutavit et ad deos abiit", ebd.). Sein Grab sei in der Stadt Gnossos zu besichtigen und es befinde sich darauf in alten griechischen Lettern die Inschrift ZAN KRONOY.
Was besagt diese Geschichte anderes, als dass die olympischen Götter menschlich waren und auf Grund besonderer Taten und Verdienste nach ihrem Tod vergöttlicht oder als Götter verehrt wurden? Denn Euhemeros behandelte in seiner "Heiligen Aufzeichnung" nicht nur die irdische Geschichte des Göttervaters, sondern auch die der anderen aus der alten Mythologie bekannten Götter. Aphrodite zum Beispiel hat in ihrem Tempel im zyprischen Paphos darum die "ars meretricia" (ebd.) eingeführt, um die ungute fama von sich abzulenken, "ne sola praeter alias mulieres impudica et virorum adpetens videretur" (ebd.). Was kann dieser ungewöhnlichen Göttergeschichte der Olympier entnommen werden? Nicht weniger als dass die Götter, die die Menschen verehren, erst "ob merita virtutis aut muneris" (S. 27) unter die Götter gelangt sind. Besonders Königen und anderen mächtigen Wohltätern wurde diese Vergunst zuteil ("primi ac maximi reges"" , S. 28), sei es, dass diese aktiv auf ihre eigene Vergöttlichung hinarbeiteten ("ipsum Iovem postquam rerum potitus sit, in tantam venisse insolentiam, ut ipse sibi fana in multis locis constituerit", S. 41) oder dass ihnen das Gottesattribut von sie verehrenden Menschen ("divinis honoribus affectos esse", S. 28) zugesprochen wurde. Auch an eine Interaktion beider Momente ist wahrscheinlicherweise zu denken.
Es zeugt von der Weite der geistigen Interessen des Ennius, dass er die Römer mit dieser geradezu aufklärerischen Götterentstehungslehre bekannt gemacht hat. Denn es schieden sich an Euhemeros die Geister bereits im Altertum. Die einen begrüßten die kühne Deutung des Autors und seine ganz irdische Theogonie, die anderen, traditioneller Gesinnten, verwarfen sie als blasphemisch und bezeichneten ihren Autor als atheos (vgl. Jacoby, S. 964). Die Christen delektierten sich an der von einem Griechen selbst festgestellten Ungöttlichkeit der alten Olympier, denen sie ihren wahren und einzigen Gott entgegenstellten.
Jedoch hatte Euhemeros eine ungeahnte oder sich doch ganz natürlich aus den der Zeit inhärenten Gedankengängen ergebende Wirkung. Laktanz schreibt: "Hoc modo religionem cultus sui per orbem terrae Iuppiter seminavit et exemplum ceteris ad imitandum dedit", (Vallauri, S. 41). Diese "ceteri" waren die zeitgenössischen Herrscher der griechisch-orientalischen oikoymene, die im Anschluss an Alexander und die übrigen asiatischen Vorbilder bestrebt waren, ihr Leben in eine göttliche Sphäre anbetender Verehrung zu heben und diese Verehrung, die sich in der Folge auch nach Italien hinein verbreitete, in Tempeln und herrscherlichen Götterbildern sichtbar zu machen.
Niemand war hierin konsequenter und in euhemeristischer Nacheiferung beflissener als der im 1. Jahrhundert v. Chr. in Kommagene regierende König Antiochos I., der den Beinamen theos annahm. Wer je nach längerem nächtlichen Aufstieg gegen Sonnenaufgang den Gipfel des einsamen Götterbergs Nemrud Dag im Tauros-Gebirge (Osttürkei) erreicht hat und sodann den goldschimmernden Steinbildern der monumentalen griechisch-persischen Mischgötter des kommagenischen Olymp, die von der Sonne beleuchtet werden, ins erhabene Antlitz geblickt hat, begreift, wie die Saat des Euhemeros in diesem Gebirge wohltätige Herrscher in den Stand von Göttern versetzen konnte. Mitten unter den Himmlischen, in gleicher Größe und mit gleichem Schmuck in Tracht und Haltung, thront an der Sonnenaufgangsseite des gewaltigen, nach wie vor uneröffneten, königlichen Grabtumulus Antiochos selbst unter seinesgleichen. "Die Politik dieses Herrschers zielte primär auf die Erlangung der Unsterblichkeit ...; und dieser Politik ist alles untergeordnet" (Dörrie, S. 223). Wie der euhemerische Zeus in Panchaia ließ der König seine göttlichen Taten an Felsüberhängen in riesigen, wohlerhaltenen griechischen Inschriften anbringen. "Was Zeus einst tat, d. h. die Taten und Leistungen, die Zeus' Anerkennung als Gott zur Folge hatten, werden in Kommagene nachgeahmt und wenn möglich überboten" (ebd.).
Ideologisch gestützt wird der Herrscherkult von den Freunden des Königs aus platonischer Philosophie und alten Epiphanievorstellungen. Wie jedes Menschen Psyche göttlicher Emanation entspringt, deren Funke nach Abstreifung der Körperhülle wieder zu Gott zurückkehrt, so verhält es sich auch mit der Psyche der königlichen Wohltäter des Menschengeschlechts, mit dem Unterschied freilich, dass sie sich durch ihre Erdentaten besondere und vorzügliche Himmelswürdigkeit attribuiert haben. So ist die Herrscherseele, im Gegensatz zu der gewöhnlicher Menschen, eher eine Epiphanie der Göttlichkeit auf Erden, eine Theophanie, denn bloßer Gottesfunkenträger. Sie kehrt, wenn der Leib verfallen ist, vollends vergöttert zu ihresgleichen zurück und erheischt die nämliche Verehrung wie die Himmlischen.
Wir wagen den Sprung zurück aus der Antike vor der Zeitenwende in das Jahrhundert der europäischen Aufklärung. Voltaires Euhemeros wohnt in der Stadt Syrakus, ist weit gereist, hat also viel an Welterfahrung und Weisheit gewonnen. Das Szenarium zu Beginn des Voltaireschen Dialogs gleicht dem vom Ende des "Candide", in dem der vom Leben schlimm gebeutelte Westfale, ähnlich wie der syrakusanische Euhemeros, seinen Garten an der Propontis bestellt und Gott, Welt und Weltlauf bedenkt. Sein Gesprächspartner Kallikrates möchte den Weisen in ein Gespräch ziehen, um ihn einen Teil seiner Weisheit zu entlocken. Charakteristisch ist der Beginn des Dialogs:
CALLICRATE: Eh bien, sage Evhémère, qu' avez-vous vu dans vos voyages?
EVHÉMÈRE: Des sottises.
CALLICRATE: Quoi! Vous avez voyagé à la suite d'Alexandre, et vous n'êtes point en extase d'admiration?
EVHÉMÈRE: Vous voulez dire de pitié.
CALLICRATE: De pitié pour Alexandre! (S. 318)
Sodann zählt Evhémère ihm Alexanders Übeltaten auf, das Töten von Freunden, das Niederbrennen von Persepolis nach durchzechter Nacht auf Anstiften einer Dirne, Zerstörung und Vernichtung in Asien aus Habgier. Die heutigen Herren im Norden, die Römer, stehen hierin Alexander nicht nach. "Dès qu'ils savent que Véies, leur voisine, a un peu de blé et d'orge dans ses magasins, ils font déclarar par leurs prêtres féciales qu'il est juste d'aller voler les Véiens. Le brigandage devient une guerre sacrée" (S. 319f.). Sind denn die Menschen überall so böse, gierig, mörderisch? Evhémère ist unzweideutig. "Tel a été, tel est, et tel sera toujours le genre humain" (S. 320).
Das wirft Fragen nach der Herkunft des Bösen im Menschen auf. "Pourquoi tant de calamités, et tant de bêtises?" (S. 321), über die Evhémère schon seit langem in seinem Vorstadtgarten bei Syrakus reflektiert, vor allem aber die Frage nach einem Gott: "Y a-t-il un Théos? ... Et depuis le temps qu'on en parle, ne s'est-on pas moqué de nous?" (S. 322). Denn die polytheistische Religion, die die Götter nur als mächtige Menschen präsentiert - und hier zeigt sich Voltaire als ausgezeichneter Kenner der Euhemeros-Fragmente - , ist nicht ernst zu nehmen. "On s'en est bien moqué en effet, quand on nous a fait adorer un Jupiter mort en Crète" (ebd.).
Aus der Beobachtung der Welt drängt sich Voltaire eine geschaffene Ordnung auf: "Un beau palais me démontre un architecte" (S. 323). Es kann nicht so sein, wie die Epikureer behaupten, dass alles Entstandene sich aus der zufälligen Agglomeration von Atomen gebildet hat. Chaos wäre dann eher zu erwarten gewesen. Jedoch: "Tout est art dans l'univers, et ... l'art annonce un ouvrier" (ebd.). Wenn der Schöpfergott sich für das Nachdenken aus der Beobachtung des Kosmos zwingend ergibt, so ist alsdann seine Schöpfung näher zu betrachten. Es gibt nämlich nicht nur Glück für die von ihm geschaffenen Wesen. Es gibt "mal physique" und "mal moral". 1759 bereits hat Voltaire in seinem "Poème sur le désastre de Lisbonne", anlässlich der Zerstörung dieser Stadt durch ein Erdbeben, diese ihn tief bewegenden und schon bei Leibniz, mit dem er sich intensiv auseinander setzte, behandelten Fragen zum Thema gemacht. Sie bleiben seine denkerische Obsession bis in seine alten Tage. In Sizilien kann, wenn der Ätna ausbricht, das "mal physique" zur unvermittelt erlebten Katastrophe werden. Jedoch wird auch die gute Seite sichtbar: "Aux pieds de ce mont Etna qui vomit la flamme et la mort autour de nous, je vois les campagnes les plus riantes et les plus fertiles. ... Il y a donc du bien dans ce monde, s'il y a tant de mal. Il est donc démontré que Dieu n'est pas absolument méchant, s'il est l'auteur de tout" (S. 325). Im pessimistischeren "Candide" wird uns das "mal physique" und das "mal moral" in aller erzählerischen Krassheit vor Augen geführt und die Frage nach dem guten Gott bleibt unbeantwortet in der Schwebe.
Voltaire bemüht sich um Gottes Rechtfertigung, wie aus seinen Texten passim zu ersehen, ohne je zu einem abschließenden Urteil bezüglich Gottes Güte zu gelangen. Nur Teilrechtfertigungen gelingen seiner sich ständig vordrängenden Skepsis. Eines der vom Menschen gefürchteten Übel ist der Tod. "Il eût été contradictoire que tous les animaux vécussent toujours et procréassent toujours: l'univers n'aurait pu les nourrir. Ainsi la mort, qu'on regarde comme le plus grand des maux, était aussi nécessaire que la vie" (S. 326f.). Offenbar hat Gott die Welt nur zu den bestehenden Bedingungen schaffen können.
Wie steht es jedoch mit der Bosheit der Menschen, dem "mal moral"? Konnte Gott den Menschen nicht als besseres Wesen hervorbringen? "Il est contradictoire que le mal n'existe pas quand le bien existe; il est contradictoire qu'il y ait du feu, et que ce feu ne puisse causer d'embrasement; qu'il y ait de l'eau, et que cette eau ne puisse noyer un animal" (S. 332f.). Indes kann Gott das Übel nicht auf sich beruhen lassen, wenn er existiert. "Dieu est si parfait, qu'il n'a pas la liberté de faire le mal" (S. 335). Er hat uns zwar die egoistischen Antriebe und Leidenschaften gegeben, die jedoch auch Gutes bewirken können, sofern wir sie durch die Vernunft zu lenken wissen. "Il y a de très bonnes passions, et il (= Gott) nous a donné la raison pour les diriger" (S. 341).
Wahrscheinlich, ja sicherlich, bestraft Gott das Böse und lohnt das Gute, wenn uns auch das Wie unbekannt bleibt. Wenn er jedoch lohnt und straft, muss etwas von uns überleben, an dem diese Akte vollzogen werden könnten. "Il faudrait savoir s'il peut exister de nous quelque chose se sensible quand tous les organes du sentiment sont détruits, quelque chose qui pense quand la cervelle, où se formait la pensée, est mangée des vers, et quand ces vers et cette cervelle sont en poussière" (S. 336). Und nun begibt sich der 83jährige Voltaire/Evhémère in die metaphysische Spekulation, Gedanken der gleichen Art, wie sie der todkranke Mitterrand kurz vor seinem Ableben nachhing. Da der französische Präsident wiederholt erklärte, er wäre von allen Geistesgrößen, hätte er die Wahl gehabt, am liebsten Voltaire gewesen, scheint dieser Hoffnungssplitter von ihm dem vorliegenden Dialog entnommen zu sein. "Mais si dans l'animal raisonnable, appelé homme, Dieu avait mis une étincelle invisible, impalpable, un élément, quelque chose de plus intangible qu' un atome d'élément, ce que les philosophes grecs appellent une monade; si cette monade était indestructible, si c'était elle qui pensât et qui sentît en nous, alors je ne vois plus qu'il y ait de l'absurdité à dire, que cette monade peut exister, peut avoir des idées et du sentiment quand le corps dont elle est l'âme sera détruit" (S. 336f.).
Als Callicrate den sich unkontrolliert metaphysischen Überlegungen ergebenden Evhémère zur Ordnung ruft ("il ne faut pas fonder sa philosophie sur des peut-être", S. 337), relativiert dieser unverzüglich sein Gedankenspiel als "imagination grecque" (S. 337) und zieht sich nach diesen reflexiven Ausschweifungen in unbekannte Gefilde (zu Gott und Seele) auf das vertraute Terrain seines agnostischen Skeptizismus zurück. "Oui, je l'avoue très humblement et très douloureusement; je ne puis connaître leur substance, je ne puis savoir comment se forme ma pensée, je ne puis imaginer comment Dieu est fait; je suis un ignorant" (ebd.).
Wir brechen hier ab. Die "Dialogues d'Evhémère" sind thematisch reichhaltiger als hier dargestellt werden konnte. Ein Jahr vor seinem Tod zieht Voltaire zu seinem bisherigen Denken noch einmal Bilanz. Der alte Philosoph tut dies in der faszinierenden gedanklichen Klarheit und bohrenden Konsequenz des Fragens, die auch seinen Schriften aus jüngeren Jahren eignen. Worin jedoch besteht der Bezug zu Euhemeros von Messene? Voltaires Imagination hat sich augenscheinlich an dem aufklärerischen Reflexionsduktus des antiken Autors entzündet. Beide behandeln religiöse und Sinnthemen. Sind die Götter und ist Gott? Von welcher Beschaffenheit sind sie? Sind sie unserer Anbetung wert? Sind die von Euhemeros geschilderten Götter nicht so lächerlich wie die von der Kirche, l'infâme, ihren Gliedern angetragenen Dogmen, deren Forderung nach gläubiger Bejahung zu Voltaires Zeit noch eine Frage auf Leben und Tod war? Im 17. und 18. Jahrhundert brannten die Scheiterhaufen besonders hell. Nicht zuletzt Voltaire wird durch seinen Kampf den mit allen Mitteln durchgesetzten Glaubenszwang beseitigen helfen.
Gewiss ist die Stilisierung des antiken Schriftstellers zum aufgeklärten Weisen vom Schlag Voltaires eine Projektion des Alten von Ferney. Euhemeros' Ziele waren andere, eher staatsutopisch-theologische. Jedoch waren, wie es scheint, die wenigen Fragmente, die Voltaire kannte, imstande, ihn zu dieser reizvollen abschließenden Summa philosophica seines Denkens zu inspirieren, bevor sein ungemein lebhaftes und reges Gehirn erlosch.Literatur
Dörner, F. K. (Hg.): Kommagene. Antike Welt 6, 1975 (Sondernummer).
Dörrie, H.: Der Königskult des Antiochos von Kommagene im Lichte neuer Inschriften-Funde. Göttingen 1964.
Jacoby, F.: Euemeros. Paulys Real-Encyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft VI, 1, 1909, 952-972.
Vallauri, G.: Evemero di Messene. Testimonianze e frammenti. Torino 1956.
Voltaire: Dialogues d'Evhémère. Oevres complètes 28, Paris 1818, 318-385.
FRANZ STRUNZ, Andechser Weg 12, 82041 Deisenhofen