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       Thomas Brückner / Günther  
         Scheda 
    Zur Lage des
    altsprachlichen Unterrichts in der Bundesrepublik Deutschland  
        Eberhard  Kaus:   
    J. A. Comenius, Fr. Spee
    und die Europäische Kommission 
        Bernhard Kytzler / Niko Eberl:   
    Unser tägliches
    Griechisch 
        Franz Strunz:  
    Hypatia in der schönen
    Literatur: Fritz Mauthners Hypatia 
      
      
      
    Thomas
    Brückner / Günther Scheda 
    Zur Lage des
    altsprachlichen Unterrichts in der Bundesrepublik Deutschland  
     
    Bericht vor der Vertreterversammlung in Heidelberg am 14. 4.
    1998  
     
    1. Die Vorsitzenden der Landesverbände  
     
      Die im Forum Classicum 1/97 (letzte Seite) abgedruckte Liste
    ist nur in zwei Fällen zu ändern: Berlin und Brandenburg: StD Dr. Josef Rabl, Kühler
    Weg 6a, 14055 Berlin, Tel. 030-3019897. Hamburg: Dieter Belde, Runder Berg 23a, 21502
    Geesthacht, Tel. 04152-83143.  
     
    Die Namen der Stellvertreter und weiterer Vorstandsmitglieder liegen den Unterzeichnern
    vor und können dort abgefragt werden.  
     
    2. Schüler  
     
    Während die Position des Lateinischen als zweiter Fremdsprache insgesamt gehalten wurde
    (in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz ca. 25 %, in Niedersachsen ca. 35 %, in
    Bayern, Nordrhein-Westfalen ca. 47 %), meldet die Mehrheit der Bundesländer wiederum
    einen leichten Rückgang bei Latein ab Klasse 5 (z.B. Bayern, Hessen, Niedersachsen,
    Nordrhein-Westfalen). Ein Vergleich der Zahlen der frühen Lateinbeginner von 1987 in
    Nordrhein-Westfalen mit denen von 1997 (9,6 % gegen 4,5 %) ist aufschlussreich und dürfte
    repräsentativ sein für viele Bundesländer. Gegenüber diesem Abwärtstrend, der
    freilich nirgendwo exponentiell, sondern nur" linear verläuft, bleiben die
    Zahlen stabil in Regionen bzw. Ländern mit einem starken Anteil an Schulen in privater
    Trägerschaft:  
    So beginnen in Baden-Württemberg 13% (11,3%) der Fünftklässler an Privatschulen mit
    Latein, während an staatlichen Gymnasien es lediglich 5,4 % sind. Auch aus zwei neuen
    Bundesländern wird diese unterschiedliche Entwicklung berichtet: In Thüringen lernen 85
    Schüler Latein ab Klasse 5 an Privatschulen gegenüber 21 Schülern an einem staatlichen
    Gymnasium. In Sachsen-Anhalt hat sich die Situation für Latein ab Klasse 5 durch die
    Einführung der Förderstufe extrem verschlechtert: Ein  
    Lateinunterricht vor der Klasse 7 ist nur noch an drei Privatschulen möglich.  
     
    Die Berichterstatter erklären diese rückläufige Tendenz (die sich natürlich stark auf
    die Wahl des Griechischen ab Klasse 9 auswirkt) mit den bekannten Akzeptanzproblemen. Aber
    organisatorische Gründe kommen hinzu. Unter dem Diktat der leeren Kassen haben einige
    Länder sog. Mindestgruppengrößen festgelegt. Wenn z. B. in Nordrhein-Westfalen an einer
    Schule 105  
    Anmeldungen für die Sexta vorliegen (davon 25 für Latein als erste Fremdsprache), kommt
    kein Lateinkurs zustande und es werden drei Englischklassen eingerichtet. Das Land
    Baden-Württemberg ist demgegenüber großzügig: Die Mindestzahl beträgt dort für
    Latein I und Latein II 16 Schüler.  
     
    Zum Griechischen: Unter einem ,Damoklesschwert` stehend, haben viele traditionsreiche
    Schulen durch massive Werbemaßnahmen die Zahl der Griechischwähler halten, ja sogar
    erhöhen können; an anderen Gymnasien mit weniger günstigen Rahmenbedingungen (soziale
    Brennpunkte, Konkurrenzsituation, Altersstruktur der Griechischlehrer) konnten
    Griechischkurse in 9 nicht mehr eingerichet werden.  
     
    In der Oberstufe verstärkt sich die Tendenz, die zweite bzw. dritte Fremdsprache bei
    Erreichen der Abschlussqualifikation (Latinum / Graecum) abzuwählen. Das Ende der Stufe
    11 oder 12 ist in sehr vielen Fällen auch das Ende der Beschäftigung mit der zweiten
    (oder dritten) Fremdsprache. Dieses Desinteresse hat bisher überwiegend das Französische
    getroffen. Jetzt ist diese Entwicklung auch bei Latein II (und Latein III) zu beobachten.
    Auch der Mangel an Lateinlehrern kann der Grund dafür  
    sein, dass in einem Bundesland, nämlich Nordrhein-Westfalen, die Zahl der Grundkurse in
    13 gegenüber 12 um einhundert reduziert wurde. Offensichtlich war man erfolgreich
    bemüht, durch eine angebliche Beratung der Schüler, in Wirklichkeit durch geschickte
    Einflussnahme, bestimmte Kurse zu streichen und somit an die in der Sekundarstufe I
    fehlenden Lateinlehrer zu kommen.  
     
    3. Lehrer  
     
    Unsere Frage nach der Zahl der Pensionierungen wird in den Berichten aus den neuen Bun  
    desländern in der Regel exakt beantwortet. Es handelt sich dort ja nur um wenige Fälle.
    Anders ist die Situation in den alten Bundesländern. Möglicherweise werden genaue Daten
    über die von Jahr zu Jahr steigende Pensionierung von Altphilologen von den
    Kultusverwaltungen bewusst zurückgehalten, um das Missverhältnis zwischen dem
    Ausscheiden von Altsprachlern und der  
    Einstellung junger Kollegen zu kaschieren. Bekanntlich haben einige Bundesländer die
    Wochenarbeitszeit sowie die Pensionsgrenze heraufgesetzt. Dadurch kann man zwar die
    öffentlichen Kassen entlasten und das Unterrichtsangebot sichern, aber entsprechend viele
    junge Lehrer bleiben arbeitslos.  
     
    Mehreren Berichterstattern ist es nicht gelungen zu ermitteln, wieviele Lehrer eine
    Anstellung gefunden haben. Bei der Durchsicht der zugesandten Informationen gewinnt man
    kein einheitliches Bild. Die Einstellungssituation ist zu unterschiedlich. Neben Ländern
    ohne irgendwelche Neueinstellungen (z. B. Bremen und Berlin) steht Bayern mit recht
    zufriedenstellenden" (Vorjahr: recht günstigen") Chancen gut da. Auch in
    den neuen Bundesländern sind die Berufsaussichten günstig, zumal von dort viele
    Altsprachler in den Westen zurückkehren. Als Grund wird unter anderem das höhere Gehalt
    genannt. - Exakte Angaben liegen aus Baden-Württemberg (35 Neueinstellungen Latein
    [zugleich 10% aller Neueinstellungen] und 6 für Griechisch) sowie aus Hessen vor: Hier
    sind es 10 Neueinstellungen (davon ein Griechischlehrer) bei einer Warteliste von 200
    Bewerbern. - Vermutlich gibt es solche Wartelisten auch in anderen Bundesländern.  
     
    Zu den Referendaren: Auch hier lässt sich kein einheitliches Bild gewinnen. Während die
    Ausbildungskapazität in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein in etwa den
    Einstellungsmöglichkeiten entspricht, gibt es Länder mit einer überproportional hohen
    Referendarausbildung, z. B. Nordrhein-Westfalen: 200 in 95/96, 240 in 96/97; im laufenden
    Schuljahr ist die Zahl so gestiegen, dass nicht nur neue Fachleiterstellen, sondern ganze
    Seminare geschaffen oder reaktiviert werden müssen.  
     
     
    4. Schul- und Bildungspolitik  
     
    Hinsichtlich der Dauer der Schulzeit (12 oder 13 Jahre) gab es keine neuen Entscheidungen.
    Die Länder bleiben bei ihren unterschiedlichen Festlegungen. Lediglich Rheinland-Pfalz
    scheint einen neuen Weg gehen zu wollen: Damit die Abiturienten ihr Studium bereits zum
    Sommersemester aufnehmen können, soll der Unterricht in 13 bereits im April enden; das
    11. Schuljahr würde dann um einige Monate gekürzt werden. - Weshalb man den so gekappten
    11. Jahrgang wieder in das  
    Kollegstufensystem integrieren möchte, ist nicht recht verständlich. Andere Pläne hat
    das Land Nordrhein-Westfalen: Es wird zum Schuljahr 1999/2000 den Unterricht im
    Klassenverband um ein halbes Jahr verlängern und die Möglichkeiten, in 11.2 Fächer
    hinzuzuwählen, stark einschränken. Diese Änderung bringt dem Lateinischen als zweite
    Fremdsprache einen großen Vorteil, da sein Unterricht erst mit der Versetzung in Stufe 12
    endet.  
     
    In mehreren Bundesländern (z. B. in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Thüringen)
    gibt es konkrete Pläne, in der Oberstufe des Gymnasiums neue Fächer zu etablieren:
    Gemeinsames Ziel dieser Reformen ist es, einen themen-, fächerübergreifenden und an
    Projekten orientierten Unterricht anzubieten. Unklar bleibt, auf Kosten welcher Fächer
    diese Änderungen durchgeführt werden sollen. Die Gefahr besteht, dass auch die alten
    Sprachen Teile ihres Stundenvolumens hergeben müssen und es so noch schwieriger sein
    wird, die von uns gesetzten Bildungsziele zu erreichen.  
     
    5. Probleme des Unterrichts  
     
    Die Schwierigkeiten für einen erfolgreichen Lateinunterricht sind dieselben geblieben und
    haben sich leider in der Berichtszeit verstärkt: große Klassen und Kurse in der
    Mittelstufe; Zunahme sozialer Probleme (Erziehungsdefizite, Verrohung durch Medienkonsum);
    Rückgang des sprachlichen und historischen Grundwissens; der Lateinlehrer als
    Einzelkämpfer an seiner Schule (oft sogar an zwei Schulen); Missverhältnis zwischen
    öffentlichen Deklarationen (Kultur der Anstrengung") und der  
    Schulwirklichkeit.  
     
    6. Unterrichtsangebote  
     
    In einer Reihe von Bundesländern verstärkt sich die Gefährdung des frühen
    Lateinbeginns durch Englischunterricht in der Grundschule (z. B. Bremen, Hamburg,
    Niedersachsen). In Berlin soll der sog. vorfachliche Fremdsprachenunterricht im Schuljahr
    1998/99 mit 2 Stunden ab Klasse 3 auf freiwilliger Basis beginnen und in absehbarer Zeit
    landesweit eingeführt werden (neben Englisch auch Französisch und Russisch).  
     
    In den neuen Bundesländern hat sich Latein als zweite Fremdsprache insgesamt gut
    etabliert. Sofern es dritte Fremdsprache ist, teilt es mit den alten Bundesländern mehr
    oder weniger ausgeprägt die Schwierigkeiten, die sich etwa aus dem Wahlverhalten der
    Schüler, aus vorhandenem Lehrermangel oder der ministeriell vorgegebenen
    Mindestgruppenzahl ergeben können. Wohl stellvertretend für andere beklagen die
    Berichterstatter für das Saarland und Sachsen den durch andere Fremdsprachenangebote in
    den Stufen 9 und 11 verstärkten Konkurrenzdruck für Latein III und IV.  
    Für die Situation des Griechischen vergleiche die Ausführungen unter 2.  
     
    7. Wettbewerbe  
     
    Wettbewerbe für beide Sekundarstufen auf Landesebene werden in erfreulich vielen
    Bundesländern weiterhin durchgeführt, in Mecklenburg-Vorpommern das Certamen Balticum
    (Sek. II) erstmals im laufenden Schuljahr 97/98. Es scheint für Wettbewerbe von Schüler-
    und Elternseite ein breites Interesse zu bestehen und auf Veranstalterseite für den
    Augenblick auch das Bemühen um Sponsoren erfolgversprechend zu sein. Der Bundeswettbewerb
    Fremdsprachen Latein für die Sekundarstufe I findet unterschiedlich starken Anklang in
    den Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen, wo die Teilnehmerzahl in den letzten Jahren
    kontinuierlich gestiegen und vergleichsweise hoch ist, stagniert gleichzeitig die
    Teilnahme am Oberstufenwettbewerb Certamen Carolinum oder geht sogar zurück. Der
    gewünschte Stimulus, der vom Wettbewerb der Sekundarstufe I für die weitere
    Beschäftigung mit den alten Sprachen in der Oberstufe ausgehen soll, ist hier zur Zeit
    nicht erkennbar.  
     
     
    8. Fortbildung  
     
    Erfreulich ist die zunehmende Verankerung der Fortbildung in den neuen Bundesländern bei
    einem breiten Angebot und guter Annahme durch die Fachkollegen. Organisation und
    inhaltliche Gestaltung haben in den Landesverbänden eine wichtige Stütze.  
     
    Vielleicht noch stärker als in den neuen sind in den alten Bundesländern die
    fortbestehenden Sparmaßnahmen seitens der Kultusministerien zu spüren. Nachmittägliche
    Veranstaltungen, die den Unterrichtsausfall vermeiden oder minimieren, werden favorisiert.
    Dass viele Kollegen diese Angebote wahrnehmen, kann bei dem vergleichsweise hohen
    Durchschnittsalter nicht genug gelobt werden. Die gestiegene Arbeitsbelastung am Vormittag
    (vgl. oben 5) erklärt zugleich, warum manche dieser Veranstaltungen am Nachmittag zu
    wenig oder gar nicht besucht werden. Bei den Themen bildeten die neuen Lehrbücher und
    neue Arbeitsformen einen gewissen Schwerpunkt.  
     
    Bei ganz- oder mehrtägigen Veranstaltungen sind in der Regel die Landesverbände
    inhaltlich und organisatorisch federführend (vier zweieinhalbtägige zentrale
    Fortbildungen in nur einem Schuljahr in Baden-Württemberg, die vom dortigen
    Kultusminister organisiert wurden, sind die Ausnahme von der Regel). Bei den Kosten steigt
    die Eigenbeteiligung der Kollegen, da die finanziellen Möglichkeiten der Landesverbände
    begrenzt sind. Ein Blick auf die Themen der Fortbildungstagungen zeigt, dass eine
    gesunde Mischung aus Altertumswissenschaft, Didaktik und Schulpraxis", wie es einer
    der Berichte ausdrückt, als das richtige Rezept angesehen wird.  
     
    9. Maßnahmen zu Information und Werbung  
     
    In Baden-Württemberg hat der Landesverband sich gegen eine Initiative zur Wehr gesetzt,
    mit welcher einseitige Werbung für Französisch als erste Fremdsprache betrieben wird.
    Die Gegeninitiative Latein und Französisch", die von mehr als 50
    Französischkollegen mitgetragen wird, macht sich für das Französische auf der Grundlage
    von Latein stark.  
     
    Broschüren, schulinterne Initiativen, Wettbewerbe, Präsentationstage (Römertag, Tag der
    Alten Sprachen, dies antiquus und so weiter), letztere teilweise in Zusammenarbeit mit
    Museen: Das sind die meistgenannten Aktivitäten zur Werbung.  
     
    Der Hinweis auf Allgemeinbildung, die mit dem Lateinunterricht besonders gefördert werde,
    hat in den neuen Bundesländern nur geringen Werbeerfolg, da Formen humanistischer
    Tradition hier weitgehend verlorengegangen sind. Dem entspricht in den alten
    Bundesländern der vergleichsweise geringe Erfolg mit umfangreicheren und eher abstrakten
    Werbetexten.  
     
    Die massiven Werbemaßnahmen", die mit zu einer Stabilisierung der
    Griechischkurse im vergangenen Schuljahr geführt haben (vgl. oben 2), sind vor allem das
    persönliche Gespräch von Fachkollegen und Schulleitung mit Eltern und Schülern. Hier
    sind nach wie vor offenbar die besten Erfolgsaussichten.  
     
    10. Zusammenarbeit mit den neuen Bundesländern  
     
    Wie in den Vorjahren Einladungen zu Tagungen, Bereitstellung von Mitteilungsblättern
    sowie private Kontakte und Initiativen. Einer der Berichte aus den neuen Bundesländern
    schlägt vor, den Punkt Zusammenarbeit nicht mehr so abzufragen". Man habe
    mittlerweise laufen gelernt und es bestehe eine freundschaftliche Zusammenarbeit, die von
    Geben und Nehmen geprägt sei.  
     
    11. Anregungen  
     
    Rheinland-Pfalz regt an: Aufnahme des Griechischen in den Bundeswettbewerb Fremdsprachen;
    deutlichere Akzentuierung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik an den Universitäten;
    Werbung für Mitgliedschaft im DAV bei den Studenten; nochmaligen Hinweis an die
    Kultusverwaltungen zu der besonders ungünstigen Altersstruktur der Lehrer in den Alten
    Sprachen; Protest gegen die mangelnden Einstellungsmöglichkeiten für junge Lehrer der
    Alten Sprachen; Erhebung der Studentenzahlen in Klassischer Philologie.  
     
    Schleswig-Holstein legt einen Schwerpunkt auf eine besondere Mitgliederbetreuung, auf
    einen Ausbau der Kontakte zu Kultur- und Bildungsinstitutionen sowie eine stärkere
    öffentliche Präsenz.  
     
    Beschlüsse bzw. Tendenzen an einigen Universitäten in Nordrhein-Westfalen, das Latinum
    als Eingangsvoraussetzung für ein Sprachenstudium fallenzulassen, machen eine
    Aktualisierung der vom DAV herausgegebenen Broschüre zum Latinum erforderlich.  
     
      Thomas Brückner und Gunther
    Scheda  
     
      
      
    Eberhard 
    Kaus:  
    J. A. Comenius,
    Fr. Spee und die Europäische Kommission  
     
     
      Das Fach Latein in einem europäischen Bildungsprojekt
    "Making the Classics European" - diese Forderung aus dem Aktionsprogramm des
    Verbandes Euroclassica" von 19801 zeigt, dass sich die geflissentliche Betonung
    eines gemeineuropäischen Erbes, wenn man die bildungspolitische Realität betrachtet, als
    Topos der Festtagsrhetorik entlarvt. Erste Einblicke in die Problematik altsprachlichen
    Unterrichts in Europa vermittelte dem Verfasser der Gesprächskreis Europa",
    der im April 1986 im Rahmen der Tagung des DAV und des Colloquium Didacticum Classicum in
    Tübingen stattfand. Die sich in den Vorträgen abzeichnende Situation dürfte sich nur
    graduell verändert haben. Damals nicht vorhersehbar war natürlich der Wandel in
    Osteuropa, der neue Chancen für Latein (und Griechisch) bot (und bietet).  
    Kennzeichnend ist eine nach Land und Schulform durchaus differenzierte Lage mit Tendenzen
    zu Verzögerung des Unterrichtsbeginns, Beschränkung auf bestimmte Schultypen oder Ersatz
    des Sprachunterrichts durch Formen eines - weitgehend mit Übersetzungen arbeitenden -
    altertumskundlichen Fachs. Nicht zuletzt die bildungspolitische Diskussion im Zusammenhang
    der fortschreitenden europäischen Einigung weist auf die Notwendigkeit einer
    Europäisierung unserer Fächer i. S. einer festen Verankerung im Rahmen eines
    supranationalen Curriculums und einer verstärkten Zusammenarbeit mit unseren
    europäischen Kollegen. Der letztgenannte Punkt bietet zugleich eine, wenn auch
    bescheidene, Ansatzmöglichkeit in der schulischen Praxis.  
     
    Als im Schuljahr 1995/96 das Hölty-Gymnasium in Wunstorf (Niedersachsen) unter der
    Federführung von StD P. Wendelken und StR B. Jonczyk mit einem Projekt im Rahmen des
    europäischen Bildungs-programms Comenius" (unter dem [Expo-]Thema:
    Mensch - Natur - Technik") begann, beteiligte sich daran von Anfang an auch die
    Fachgruppe Latein. Ziel war es zunächst, die europäische Dimension des Faches für
    Schüler erfahrbar zu machen. Hierzu wurden zwei Wege gewählt:  
     
    1. Beteiligung an einer CD-Produktion: Meinem Kollegen B. Jonczyk verdanke ich die
    Anregung zu einer Comenius-Hymne", die in Vertonungen der jeweiligen
    Partnerschulen, unter kompositorischer wie reproduktiver Mitarbeit von Schülern und
    Lehrern, neben anderen Beiträgen auf der (von der Europäischen Kommission finanziell
    unterstützten) CD Hölty and Friends Go Comenius" erschien; der Text sollte
    (!) auf Latein geschrieben sein, der Sprache, die über Jahrhunderte eine gemeinsame
     
    Grundlage des Austausches von Gedanken über die Grenzen hinweg darstellte" (so das
    Beiheft):  
     
    Laudes Comeni  
     
    Versus rhythmicos Latinos composuit  
     
    Eberhardus Kaus 1997  
     
    1.  
     
    Orbem pictum,  
     
    sed non fictum  
     
    cunctis praebet manibus,  
     
    ut mortales mentis luce  
     
    Deo vero noscant duce  
     
    mundum suis sensibus.  
     
    R: Nobis vincula iuncturis  
     
    amicitiae et iuris  
     
    gentium communio  
     
    duce fit Comenio.  
     
    2.  
     
    Peregrinans,  
     
    sed non errans  
     
    fidem parat mutuam;  
     
    pacem condens inter reges  
     
    moribus coniungit leges,  
     
    linguae pandit ianuam.  
     
    R: Nobis vincula iuncturis  
     
    amicitiae et iuris  
     
    gentium communio  
     
    duce fit Comenio.  
     
    Die vier musikalischen Bearbeitungen aus Italien, Dänemark, Schweden und Deutschland, die
    schließlich eingespielt wurden, zeigen eine reizvolle Bandbreite von Gregorianik über
    das Kunstlied bis zu Rock und Pop. Ferner regte der Text, zu dem ich eine deutsche
    Arbeitsübersetzung"2 bereitgestellt hatte, einen schwedischen Schüler zu
    einer eigenständigen Bearbeitung (Lovsang till Comenius") und Vertonung an,
    die als weiterer Beitrag auf der insgesamt acht Titel umfassenden CD erschien.  
    Zielte dieser Projektteil vorwiegend auf ein emotionales Erleben Europas, sollte die
    europäische Dimension auch im eigentlichen Lateinunterricht deutlich werden.  
     
    2. Gemeinsames Projekt eines Lateinkurses Kl. 11 mit der Klasse SP 3a der
    Sunnerboskolan/Ljungby (Schweden): Die eingangs geschilderte Problematik zeigte sich bei
    der Suche nach einer geeigneten Schule. Von den Partnerschulen des Hölty-Gymnasiums kamen
    zunächst die in Vollmitgliedsstaaten der EU gelegenen in Betracht. An der italienischen
    Partnerschule  
    - dem Istituto Tecnico Commerciale Da Passano" in La Spezia - wird kein Latein
    unterrichtet. Schließlich bot die einzige (!) Lateinlehrerin unserer schwedischen
    Partnerschule, Fr. Birgit Lindbäck, ihre Zusammenarbeit an. Bei einem Treffen in Wunstorf
    wurden im August 1996 die gegenseitigen Vorstellungen besprochen.  
     
    Zur Situation in Schweden: Der Lateinunterricht läuft zweijährig in Kl. 11 und 12. Der
    Lehrbuchphase liegt eine Bearbeitung des Cambridge Latin Course zugrunde, daran schließt
    sich etwas Cicero- und eine Lesebuchlektüre mit dem Schwerpunkt auf mittel- und
    neulateinischen Texten (Gesta Romanorum - Linné) an. Die Lektürefähigkeit unterscheidet
    sich somit deutlich vom deutschen Durchschnitt (Latein ab Kl. 7).  
     
    Das gemeinsame Projekt sollte:  
     
    die Bedeutung des Lateinischen im europäischen Rahmen erkennen lassen;  
     
    einen thematischen Bezug zu beiden Partnerländern haben und  
     
    inhaltliche Bedeutsamkeit aufweisen,  
     
    um das Schülerinteresse zu wecken und die unterrichtliche Behandlung über einen
    längeren Zeitraum zu rechtfertigen.  
     
    Diese Kriterien, die Betonung des Neulateinischen im schwedischen Lehrgang sowie der
    Gedanke, für den eigenen Unterricht Neuland zu erschließen, veranlassten den Verfasser,
    den schwedischen Partnern als Thema die Auseinandersetzung mit den Hexenprozessen in
    Schweden und Deutschland vorzuschlagen: Judicium, ratio, caritas - Der Kampf gegen
    Verfolgung und Aberglauben in Friedrich Spees Cautio criminalis (l63l/32)". Die
    Entstehungszeit dieses Textes, d. h. die Phase, in der man  
    den Dreißigjährigen" (in Deutschland) als Schwedischen Krieg" zu
    bezeichnen pflegt, die Tatsache, dass die erste deutsche Übersetzung Johann Seiferts
    (Bremen 1647) dem schwedischen Generalfeldmarschall und Gouverneur der (Erz-)Stifter
    Bremen und Verden gewidmet ist und möglicherweise das Dekret Königin Christinas vom
    16.2.1649 über die Einstellung der  
    Hexenprozesse in den schwedisch besetzten Gebieten Deutschlands beeinflusst hat, sowie der
    gemeineuropäische Charakter der Hexenverfolgungen machten die Schrift Spees m. E. zu
    einem beide Seiten ansprechenden und einbeziehenden Text. Arbeitsgrundlage bildete eine
    vom Verfasser angefertigte und erläuterte Auswahl nach der historisch-kritischen Ausgabe
    des niederländischen Germanisten und Theologen Theo G. M. van Oorschot3.  
     
    In unterrichtlicher Lektüre und Schülerreferaten wurden verschiedene Aspekte des
    Phänomens Hexenverfolgungen, nicht zuletzt aber auch der Text als rhetorisch geschickte
    Streitschrift thematisiert. Bei der Textauswahl4 wurde versucht, grundlegende Fragen, die
    Spee in seiner Cautio anspricht, trotz aller Kürzung erkennen zu lassen. Hierzu gehören
    u. a.:  
     
    der Glaube an Hexen und Hexensabbat",  
     
    das Verhältnis von Tradition und Vernunft,  
     
    Deutschland als Zentrum des Hexenwahns,  
     
    die beteiligten Gruppen und ihre Verantwortung (Volk, Geistlichkeit, Beamte, Fürsten),  
     
    Gott und Prozessverlauf (Theodizee),  
     
    Unschuldsvermutung und Recht auf Verteidigung,  
     
    die Folter als Hindernis zur Wahrheitsfindung.  
     
    Die Schülerreferate ergänzten den Text u.a. durch Hintergrundinformationen und
    Erklärungsversuche moderner Historiker/innen5 und schufen dadurch die Möglichkeit, sich
    ein Urteil über Spees Einschätzung zu bilden. Die schwedischen Partner lieferten über
    Fax einen Beitrag Witchtrials in Sweden", der bei zeitlichen und
    zahlenmäßigen Unterschieden durchaus Parallelen zu den deutschen Verhältnissen erkennen
    ließ.  
    Das Jubiläum anlässlich des 75jährigen Bestehens des Hölty-Gymnasiums bot die
    Gelegenheit, die Ergebnisse des Projektes der Schulöffentlichkeit vorzustellen. Hierzu
    waren neben den Referattexten (in Kurzfassung) Auszüge aus Spees Mahnschrift in
    Schülerübersetzungen für eine Schautafel aufbereitet worden.  
     
    Fazit: Sowohl die musikalische Arbeit mit der Hymne als auch die für den Lateinunterricht
    (meiner Kenntnis nach) neuartige Beschäftigung mit Spees Cautio criminalis hat Interesse
    bei zahlreichen Schülern gefunden und das COMENIUS-Projekt um eine wichtige Facette
    ergänzt. Die vorausgehende Darstellung dürfte aber auch das Hauptproblem dieses
    Projektes deutlich  
    gemacht haben. Es besteht in der Unausgewogenheit der Partnerbeteiligung. Der Grund liegt
    dabei sicher in den unterschiedlichen Voraussetzungen der beteiligten Schülergruppen.
    Gleichwohl sollte man m. E. hierbei nicht stehen bleiben.  
    Gerade die geschilderte Situation in vielen europäischen Ländern zwingt zu einer engeren
    Zusammenarbeit untereinander, soll das Ziel einer festen Verankerung der classics in einem
    europäischen Curriculum erreicht werden. Die Konsequenz kann also nur heißen, weiter
    nach geeigneten Möglichkeiten zu suchen und z. B. bei der Textauswahl stärker auf die
    augenblicklichen  
    Möglichkeiten des Partners einzugehen6. Wichtig ist es, im Gespräch zu bleiben, mit den
    europäischen Nachbarn, nicht weniger aber mit unseren Kollegen vor Ort", um
    das  
    Bewusstsein für die Bedeutung unserer Fächer als Einheit stiftendes Band Europas
    wachzuhalten.  
     
    1) Hierzu H.-J.Glücklich in: Forum Classicum 40,2 [1997],62ff.  
     
    2) Im Februar 1998 erschien ein zusätzliches Begleitheft, hrsg. vom Sekretariat der
    Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, in
    dem die CD einschl. der Liedertexte in acht weiteren europäischen Sprachen vorgestellt
    wird. - Die CD kann gegen Erstattung der Versandkosten beim Sekretariat des
    Hölty-Gymnasiums bestellt werden:  
    Hindenburgstr. 25, 31515 Wunstorf.  
     
    3) F.Spee, Cautio Criminalis, hrsg. von Theo G. M. van Ooschot (= F. Spee, Sämtliche
    Schriften, hist.-krit. Ausgabe, Bd.3), Tübingen und Basel (Francke) 1992.  
     
    4) Sie umfasste Abschnitte aus den dubia I, II, VIII, X, XVII und LI.  
     
    5) Themen der Referate waren u.a. : Friedrich Spee", Prozeßwellen",
    Ursachen der Hexenverfolgung", Geographische Verbreitung der
    Hexenprozesse in Deutschland", Kinder in Hexenprozessen". Die Grundlage
    bildeten u. a.: G. Schormann, Hexenprozesse in Deutschland, Göttingen 1981, und der
    Sammelband Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich,
    hrsg. von G. Wilbertz, G. Schwerhoff und J. Scheftler, Studien zur Regionalgeschichte Bd.
    4, Bielefeld 1994.  
     
    6) Im Gespräch ist z. Zt. ein gemeinsames Projekt über Phaedrus und die Fabel in
    Schweden und Deutschland". Geplant ist ferner die Beteiligung am zweiten Teil des
    COMENIUS-Projekts unter der Federführung unserer italienischen Partnerschule mit dem
    Thema: Giubileo 2000" (Pilgerwege und -fahrten in Europa).  
     
     
      Eberhard Kaus, Wunstorf  
     
      
      
    Bernhard
    Kytzler / Niko Eberl:    
    Unser tägliches
    Griechisch*  
    I.  
     
      Die Präsenz des einstigen
    römischen Imperiums auf deutschem Boden ist überdeutlich. Die Legionen aus dem Süden
    haben Straßen gebaut und Brücken errichtet, sie haben Städte gegründet und ihnen Namen
    gegeben wie etwa Köln und Neuss; sie haben architektonische Errungenschaften eingeführt
    und den Weinbau in weiten Gebieten Deutschlands heimisch gemacht. All das und noch viel
    mehr bezeugt auch die deutsche Sprache mit ihrem hohen Anteil ursprünglich lateinischer
    Wörter (vgl. Kytzler und Redemund 1994).  
    Dass aber auch die griechische Sprache sich mit einer erstaunlich hohen Anzahl von
    Wörtern und Wendungen im Deutschen heimisch gemacht hat, nimmt schon eher wunder. Die
    beiden Länder sind ja nicht benachbart, sie haben wenig Kontakte im Laufe der Geschichte
    entwickelt, und erst in den letzten Dezennien ist es durch die griechischen Gastarbeiter
    in Deutschland einerseits, durch die deutschen Touristen in Griechenland andererseits zu
    einigen nachhaltigeren Kontakten gekommen. Die Erklärung des verwunderlichen Phänomens
    soll sich am Ende dieser Studie ergeben. Sie berichtet über ein im Jahre 1993 begonnenes
    Projekt, das zum Ziel hat, parallel zu dem bereits genannten Buch über die lateinischen
    Wörter, nun auch das griechische Spracherbe in unserer Muttersprache zu erfassen und vor
    Augen zu stellen.  
     
      
    II.  
     
     
    Zunächst wurde eine Liste sämtlicher aus dem Griechischen stammender direkt oder
    indirekt übernommener Wörter erstellt unter Verwendung dreier einschlägiger Werke
    (Duden Bd. 5, 1990; Kauczor & Wittstock 1979; Richter & Hornbostel 1981). Diese
    Liste umfasste ca. 15.000 griechische Fremd- bzw. Lehnwörter von den insgesamt 50.000
    derartigen Wörtern verschiedener Herkunft.  
    Die so ermittelten ca. 15.000 Wörter wurden dann auf das Maß der den Autoren relevant
    erscheinenden Wörter reduziert. Dabei wurden von dem Gesamtbestand von 15.000 die 9.500
    bedeutendsten ausgewählt. Hierbei war das maßgebende Kriterium der tägliche
    Sprachgebrauch unter Mitberücksichtigung von Fachsprachen wie etwa Medizin und Botanik,
    Chemie und Musik, Rhetorik und Grammatik. Von diesen Fachsprachen wurden solche Wörter
    ausgewählt, die auch dem Laien begegnen.  
    Was die Kriterien für die Auswahl der griechischen Fremd- bzw. Lehnwörter betrifft, so
    fanden folgende Wortgruppen Aufnahme in Unser tägliches Griechisch (im folgenden: UTG):  
     
    Fremdwörter im engeren Sinn (wie z. B. Philosophie), die direkt oder indirekt ins
    Deutsche gelangt sind und gar nicht oder nur wenig verändert worden sind, d. h. als fremd
    empfunden werden. Dabei ist zu erwähnen, dass viele griechische Fremdwörter über das
    Lateinische oder die romanischen Sprachen den Weg in die deutsche Sprache gefunden haben,
    aber nur wenige über das Englische (Mimikry, Spleen) und so gut wie keine über das
    Russische.  
    Lehnwörter, d. h. früh entlehnte und dann eingedeutschte Wörter, wie z. B. Teppich, das
    dem griechischen  tapes (= Decke) im 7. Jahrhundert entlehnt wurde, während die
    Bedeutung Tapete vom selben Wort erst ca. 1000 Jahre später übernommen wurde. Ebenso
    wurden eigentliche Lehnwörter wie Butter und Tisch von  boutyron (= Rindskäse) bzw.
    diskos  (= Rundscheibe) erfasst, die der Fremdwörterduden nicht aufführt.  
    Wörter anderer Sprachen (z. B. hebräischer oder ägyptischer Herkunft), die über das
    Griechische als Fremdwort ins Deutsche eindrangen, z. B. der von dem aramäischen abba
    über das griechische Wort abbas abgeleitete Abt.  
    Neologismen, d. h. Wörter, die es im antiken Griechisch nicht gab und die in der Moderne
    zur Benennung neuer Dinge od. Begriffe künstlich aus dem Griechischen gebildet wurden,
    wenn der deutsche Wortschatz zur präzisen Bezeichnung des neuen Inhalts nicht ausreichte.
    Dies gilt insbesondere für den Bereich der Technologie, wie z. B. die Wortschöpfung
    Hologramm  
    (dreidimensionale Ansicht; aus holos = ganz) und gramma  (= Buchstabe, Schrift)
    zeigt.  
    Zusammengesetzte Wörter finden generell nur dann eine Aufnahme, wenn ihre jeweiligen
    Teile einzeln andere Bedeutung haben als das zusammengesetzte Wort (wie in dem Fall
    Ökologie). Oft handelt es sich hierbei um Hybridbildungen, meist griechisch-lateinischer
    (z. B. Automobil), oft auch griechisch-deutscher Herkunft (z. B. Autobahn). Hier ließen
    wir uns von dem Grundsatz der Benutzerfreundlichkeit leiten, haben uns also in
    Zweifelsfällen jeweils für die Aufnahme entschieden. Interessanterweise finden sich
    unter den griechischen Fremdwörtern kaum Verben, anders als bei den lateinischen
    Fremdwörtern, die unter Verwendung deutscher Vorsilben (wie an, auf-, ver-, zer-) in
    Kombination mit einem lateinischen Wort entstehen.  
    Schließlich haben wir uns entschieden, Vornamen aufzunehmen, um auch diesen Bereich des
    täglichen Gebrauchs griechischer Wörter hinreichend zu dokumentieren (z. B. Barbara,
    Nikolaus, Angelika, Alexander). Das gleiche gilt für Ausdrücke und Redewendungen aus
    Mythos und Geschichte (Tantalosqualen, Damoklesschwert), die im lexikalischen Teil
    aufgeführt und in einem Anhang erläutert werden.  
    Nicht aufgenommen hingegen wurden solche Wörter griechischer Herkunft, die erst in der
    Neuzeit ins Deutsche eingedrungen sind (z. B. Ouzo) und daher nicht als altgriechischen
    Ursprungs gelten können.  
    Nach der Auswahl der Wörter wurden diese für den Lexikonteil bearbeitet, d. h. es wurde
    die Etymologie überprüft und das jeweilige Ursprungswort aus dem Griechischen mit Hilfe
    der einschlägigen Lexika ermittelt (Frisk 1960; Pape 1954). Eventuelle Lücken werden
    unter Benutzung des sechsbändigen Duden-Wörterbuchs sowie der Werke von Richter &
    Hornbostel (1981) und Kauczor & Wittstock (1979) geschlossen. Angestrebt ist eine
    Darbietung, die parallel zu Unser tägliches Latein (im folgenden abgekürzt als UTL) in
    tabellarischer Form den Bestand der griechischen Wörter im Deutschen aufzeigt. Eine
    Beispielseite erläutert dies im folgenden.  
     
    Die Beispielseite ist deutlich in fünf Kolumnen gegliedert. Nach der laufenden Nummer am
    linken Rande erscheint zunächst in alphabetischer Folge das deutsche Stichwort und
    anschließend eine kurze Erklärung resp. Übersetzung desselben. Diese dritte Spalte ist
    außerdem in gegebenen Fällen erweitert durch Zahlenangaben; diese Kennziffern verweisen
    auf den beigegebenen Sachgruppenkatalog, in dem 87 Themen aufgelistet sind. Durch die
    Verweise ergibt sich leicht die jeweilige Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bereich (oder
    auch mehreren), sei es ,Jagd` oder ,Kunst`, ,Schlaf` oder ,Hygiene`, ,Geld`  
     
    A  
     
    0001     a- (auch     verneinende Vorsilbe (alpha
                
    ~-, ~í-, ~ì-     nicht, ohne  
     
                an-, am-)
                 privativum)
                                 
    a-, an-, am-  
     
    0002     Abakus    1. antikes Rechen- o. Spiel-
                 eâáî
                    
    Tischplatte,  
     
                                   
    brett {71/75/85};
                            
    abax
                    
    Rechen-,  
     
                               
    2. Säulendeckplatte beim
                                             
    Spielbrett, obere  
     
                               
    Kapitell {88}
                                                                
    Platte auf dem  
     
                                                                                                                 
    Säulenkapitell  
     
    0003     Abasie     Unfähigkeit zu gehen
                            
    ~
                        
    s. oben 0001  
     
                                                                                       
    a-  
     
                                                                                       
    + âáßíåéí             
    gehen  
     
                                                                                       
    bainein  
     
                abatisch
         1. die Abasie betreffend;
                    
    dto.
                        
    dto.  
     
                               
    2. unfähig zu gehen  
     
    0004     Abaton     1. das Allerheiligste;
                            
    eâáôïí
                    
    das Unbetretbare  
     
                               
    2. Altarraum in den Kirchen des         abaton  
     
                               
    orthodoxen Ritus (rel. t. t.)  
     
    0005     Abbé     (1. Form): Titel eines Geist-
                    
    eââáò
                    
    Vater  
     
                bzw.
             lichen in Frankreich
                                
    abbas
                    
    vgl. unten 0010  
     
                Abate
         (2. Form): Titel der Weltgeist-  
     
                aram>gr. lichen in
    Italien oder Spanien  
     
                               
    {51}  
     
    0006     Abderit     einfältiger Mensch,
                                
    \Áâäçñßôçò          Bewohner der  
     
                               
    Schildbürger
                                            
    Abderites          altgriechischen  
     
                                                                                                                   
    Stadt Abdera (s.  
     
                                                                                                                   
    Anhang Mythos")  
     
                  abderi-
         einfältig, schildbürgerhaft
                            
    dto.
                    
    dto.  
     
                   
    tisch  
     
    0007     Abiogene-     Annahme, daß Lebewesen
                    
    ~
                        
    s. oben 0001  
     
                se o. Abio-
         ursprünglich aus unbelebter
                    
    a-  
     
                genesis
             Materie entstanden seien
                        
    + âßïò
                    
    Leben  
     
                                                                                               
    bios  
     
                                                                                               
    + ãÝíåóéò         Ursprung,  
     
                                                                                               
    genesis             
    Entstehung  
     
    0008     Abiose,     Lebensunfähigkeit
                                        
    ~
                        
    s. oben 0001  
     
                Abiosis
                                                                         
    a-  
     
                                                                                               
    + âßïò             Leben  
     
                                                                                               
    bios  
     
                abiotisch
         ohne Leben, leblos
                                    
    dto.
                      
    dto.  
     
     
    oder ,Geschichte`. Der Benutzer wird so darauf geführt, sich der Zusammengehörigkeit von
    Wortfeldern zu vergewissern.  
     
    Die vierte und vorletzte Spalte nennt nun das griechische Wurzelwort. Da sicherlich bei
    der Mehrzahl der Benutzer nach Shakespeares Vorbild mit little Latin and less Greeke zu
    rechnen ist, wird jedes Wort in griechischen Buchstaben und zugleich auch in deutscher
    Umschrift angegeben. Die letzte Spalte schließlich erklärt die Bedeutung des
    griechischen Grundwortes. Querverweise sollen das Verständnis erleichtern und vertiefen.  
    Ein kurzer Blick auf diese Spalte zeigt bereits die Breite des Einzugfeldes. Neben ein
    Alltagsgerät (Nr. 2) tritt ein hochdynamisches religiöses Wort (Nr. 4); komplizierte
    dreigliedrige Zusammensetzungen (Nr. 7) kontrastieren mit einfachen Vorsilben (Nr.1); aus
    Eigennamen abgeleitete Wendungen (Nr. 6) bedürfen gar einer gesonderten Erläuterung.
    Insgesamt zeigt sich, dass das Lexikon sowohl der schnellen Information wie auch der
    vertiefenden Einsicht dienlich sein kann. Die Fertigstellung des Buches ist für das Jahr
    1998 angestrebt.  
     
      
    III.  
     
     
    Um die Dimensionen von UTG zu verdeutlichen, soll der Buchstabe A im folgenden als
    Beispiel dienen. Hier wurden aus ca. 2500 Wörtern des Fremdwörterdudens die 937
    bedeutendsten ausgewählt. Ein interessanter Aspekt der Statistik ist die
    Häufigkeitsverteilung auf die einzelnen Gebiete, aus denen das Deutsche griechische
    Fremdwörter übernommen hat. Hierbei stellt man alsbald fest, dass es sich hauptsächlich
    um geistige Bereiche handelt. Während Bezeichnungen der Damenmode und Kosmetik im
    Deutschen oft französischen Ursprungs (z. B. Satin, Parfum), Bezeichnungen der Herrenmode
    eher englischen Ursprungs (z. B. Smoking) sind, so handelt es sich bei den griechischen
    Fremdwörtern in der Mehrzahl um Begriffe aus dem Gebiet der Wissenschaften (insbesondere
    Medizin, Chemie, Botanik), der Technik, der Künste, der Religion und der Politik.  
     
    Wenn man die Eintragungen unter dem Buchstaben A in UTG betrachtet, so weist die Medi  
    zin 108 Eintragungen auf, die Chemie 25, die Religion 18, die Philosophie 15 und die
    Botanik schließlich 12. Der Schwerpunkt liegt also auf den Naturwissenschaften und der
    Technologie. Dabei ist festzuhalten, dass viele neue Wortschöpfungen aus dem Bereich der
    modernen Kommunikation stammen, wie z. B. das Telephon, Telegramm, Telefax, deren Vorsilbe
    sich von tele  ( = fern) ableitet.  
     
    Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei vielen der griechischen Fremdwörter um
    Komposita, die unter Verwendung von Vor- bzw. Nachsilben, d. h. Prä- bzw. Suffixen,
    gebildet sind. Wenn man den Buchstaben A unter diesem Aspekt betrachtet, so handelt es
    sich bei immerhin 550 Eintragungen von insgesamt 937 um derartige Komposita. Hierbei sind
    zwei Gruppen zu  
    unterscheiden. Zum einen gibt es die eigentlichen Präfixe, deren Ursprung meist ein
    Adverb ist. Zum anderen handelt es sich um Bestimmungswörter, d. h. Nomen wie aer, aster,
    die den ersten Bestandteil des Kompositums bilden und so eine Vielzahl von
    Kompositionsbildungen ermöglichen. Wer diese Vorsilben kennt, kann sich viele
    Fremdwörter griechischer Herkunft selbst erschließen.  
     
    Neben dem rein Numerischen soll UTG auch den Wandel von Wortbedeutungen durch die
    Jahrhunderte dokumentieren. So wurden die Astrologen (von astrologos = Sternkundiger) zu
    Strolchen, Katharer (katharos = Glaubensreine) zu Ketzern. Auch kommt es vor, dass die
    Übernahme von Fremdwörtern schon vorhandenen Wörtern neue Inhalte gibt: Handelt es sich
    bei dem Sarkophag eigentlich um einen Fleischfresser", so ist der Skandal ein
    Stellholz" an der Tierfalle. Schließlich können durch den Blick auf die
    ursprünglichen Wortbedeutungen Vorstellungen der antiken Medizin sichtbar werden: So
    bedeutet Hysterie eigentlich Unterleibsleiden und die Melancholie Schwarzgalligkeit.  
     
      
    IV.  
     
     
    Aus der klassischen Antike wird eine boshafte Wortbildung berichtet: Als die delphische
    Sibylle, die Pythia, nach Meinung mancher Zeitgenossen wie etwa des Demosthenes sich in
    ihren Sprüchen allzu freundlich über den problematischen Nachbarkönig Philipp von
    Makedonien äußerte, sagte man, sie philippisiere = philippizein (  Min. Fel. Oct.
    26,6). Es ist eigentümlich zu beobachten, dass gerade diese Art von Wortbildung die
    einzige Klasse von Verben darstellt, die sich, aus griechischer Wurzel stammend, im
    modernen Deutsch findet. Es handelt sich dabei, unter Verwendung des Suffixes -idsein ,
    entweder um ebenfalls von Eigennamen abgeleitete Wendungen oder aber um solche, die mit
    einem weiteren Begriffsfeld in Zusammenhang stehen. So mag etwa von einem platonisierenden
    Lehrsatz die Rede sein oder von einem homerisierenden Vers. Auf der anderen Seite stehen
    Verben wie analysieren oder kategorisieren, ferner dramatisieren oder ironisieren, ferner
    idealisieren oder  
    problematisieren, kritisieren oder harmonisieren. Auch ästhetisieren (aus der Poetologie)
    oder anästhesieren (aus der Medizin) können genannt werden, ebenso aber auch das
    Poetisieren. Bisweilen gibt es gar gräzisierende Gedankengänge oder hellenisierende
    Tendenzen. Etwas anders ist die Wortbildung bei den Verben bezirzen, philosophieren oder
    musizieren.  
     
    Diese kurze Auflistung macht freilich nicht vergessen, dass vergleichsweise nur
    verschwindend wenige Verben der deutschen Sprache auf einer griechischen Wurzel beruhen.
    Ihnen stehen jedoch auf der anderen Seite Tausende von Substantiven und Adjektiven
    gegenüber, die sich in offener oder mitunter in mehr versteckter Form aus der Sprache der
    Hellenen herleiten. Unser tägliches Griechisch ist in der Tat ein Alltagsphänomen, ob
    man nun die Butter auf den Tisch stellt, beim Arzt mittels EKG eine gründliche Diagnose
    erhält und hernach hoffentlich auch vom Apotheker hinreichend therapiert wird, ohne zum
    Chirurgen zu müssen oder von einer Epidemie betroffen zu sein. Vielleicht, dass jemand
    bisweilen auch in der Kirche den psalmodierenden Priestern, im Münster dem Evangelium der
    Mönche lauscht. Nicht nur der Pfarrer und sein Bischof wie  
    überhaupt die Diakone, Äbte und Eremiten, sondern auch der Architekt oder der
    Archäologe, der Philologe und der Bibliothekar, die Kosmetikerin wie der Kosmonaut,
    schließlich die Musiker wie die Dramatiker, die Politiker wie die Poeten, die
    Mathematiker und die Grammatiker, die Physiker und die Geographen - sie sind allesamt
    griechisch geprägt; ob sie nun Schorsch heißen oder Grete, Irene oder Iris, Philipp oder
    Andrea, Agathe oder Barbara, Peter oder Alexander oder Klaus: Das griechische Spracherbe
    in unserer Muttersprache ist nicht auf das Dionysische und Apollinische allein
    beschränkt, es mischt munter mit im Medium des modernen Umgangsdeutsch.  
     
    Das mag sich im Sport auf die Olympiaden, die Athleten und die Marathonläufer beziehen,
    es mag mit der Ökonomie und der Ökologie zu tun haben, mit Tragik oder Komik, mit Lyrik
    oder mit Logik. Vielleicht ist eine besondere Taktik im Spiel, gar eine Strategie, die zur
    Hegemonie führen soll. Oder ist das nur eine Utopie? Sind es Sirenengesänge? Oder
    Sphärenklänge? Eine Euphorie? Hat uns ein Strolch ein trojanisches Pferd
    eingeschmuggelt, ein Danaergeschenk?  
     
    Ob es um Nautik oder Astronautik oder Kosmonautik geht, ob ein Geologe im Ozean ein
    Archipel sucht, ein Physiker die Atome untersucht oder ein Chemiker die Elemente studiert,
    ob ein metaphysisches Axiom erörtert wird, das geozentrische oder das heliozentrische
    Weltbild - der griechische Geist ist gedanklich und sprachlich gegenwärtig. Da stehen
    Historiker neben Hysterikern, Monarchisten gegenüber Anarchisten, Misanthropen neben
    Philanthropen, Phlegmatiker neben  
    Cholerikern und Melancholikern. Aristokraten und Demokraten begegnen sich. Nekrologe
    entfalten sich zwischen Prolog und Epilog. Epigramme sind gern kritisch, Paragraphen meist
    umstritten, besonders wenn Pornographie oder lesbische Erotik das Thema ist. Episoden
    können in Katastrophen münden. Wer sich egozentrisch im Labyrinth seiner Psyche, in den
    Katakomben seiner Seele verirrt, wird für jeden Ariadnefaden dankbar sein, der ihm eine
    weitere Odyssee erspart. Wer zur Unterhaltung ins Kino oder ins Museum geht, wer zur
    Erbauung im Theater ein Drama sieht, vielleicht einem Orchester während einer Symphonie
    lauscht, ein Musikenthusiast, der sich an ihren Harmonien, ihren Rhythmen und Melodien
    freut, oder aber wer in der Akademie mit dem Dekan der theologischen Fakultät ein Dogma
    der Häretiker diskutiert oder die Ethik der Euthanasie - ja selbst das Kind, das in der
    Schule oder im Gymnasium oder im Lyzeum den neuen Methoden der Pädagogen anvertraut wird:
    Sie alle wandeln entschieden auf griechischen Spuren, sie bedienen sich, wie bewusst oder
    unbewusst auch immer, jener Denkansätze und Begriffe, die dereinst im frühen Europa
    geprägt und uns Späteren dann in generationenlanger Traditionskette überliefert worden
    sind; eine Dimension, derer sich genauer zu vergewissern gewiss gut tut.  
     
    Damit findet auch die Eingangsfrage ihre Antwort. Griechenland und Germania mögen
    geographisch getrennt gelegen sein, im Geistigen sind sie einander nah. Europas
    Bildungstradition bindet sie eng aneinander. Die geheime Gräzität der deutschen Sprache
    korrespondiert mit ihrer latenten Latinität. Sie gründet auf der Weiterführung des
    griechischen Gutes vieler Bildungsbereiche: Physik, Mathematik, Geologie, Geographie,
    Astronomie, Grammatik, Rhetorik, Philosophie,  
    Geschichtswissenschaft, Erziehung, die bildenden Künste, die Architektur und die
    Literatur, die Religion und der Kult, das Theater und die Medizin - sie alle haben in weit
    ausgreifender Folge im europäischen Raum übernommen und entwickelt, was einst im
    hellenischen Kulturkreis entdeckt, erschlossen und gültig benannt worden ist. Und im
    Rahmen dieser klassischen Traditionen sind dann auch in der Neuzeit weiterführende
    Errungenschaften mit neugebildeten Namen bezeichnet worden, die sich sprachlich an jene
    althergebrachte Tradition anschließen. Das geheime Griechisch des alltäglichen deutschen
    Sprachgebrauchs ist, um mit einem letzten griechischen Wort zu schließen, ein
    faszinierendes Phänomen.  
     
    * Erstveröffentlichung in: Acta Germanica, Jahrbuch des Germanistenverbandes im
    südlichen Afrika 24, 1996, S. 203-209.  
     
    Literatur  
     
    Duden, Bd. 5, Fremdwörterbuch. 1990 (5. Auflage). Mannheim, Wien & Zürich:
    Dudenverlag.  
     
    Frisk, H. 1960. Griechisches Etymologisches Wörterbuch. Heidelberg: Carl Winter,
    Universitätsverlag.  
     
    Kauczor, J. & O. Wittstock 1979. Latein und Griechisch im deutschen Wortschatz.
    Berlin: Volk und Wissen.  
     
    Kytzler, B. & L. Redemund 1994 (3., erweiterte Auflage). Unser tägliches Latein:
    Lexikon des antiken Spracherbes. Mainz: Philipp von Zabern. (Kulturgeschichte der antiken
    Welt; Bd. 52; 1995 auch als Taschenbuch erschienen: Augsburg: Weltbild Verlag).  
     
    Pape, W. 1954 (Nachdruck der 3. Auflage): Griechisch-Deutsches Handwörterbuch. Graz:
    Akademische Druck u. Verlagsanstalt.  
     
    Richter, F. & W. Hornbostel 1981. Unser tägliches Griechisch. Mainz: Philipp von
    Zabern.  
     
      Bernhard Kytzler, Niko
    Eberl, Durban    (Südafrika)  
     
      
      
    Franz
    Strunz:  
    Hypatia in der
    schönen Literatur: Fritz Mauthners Hypatia  
     
    1. Hypatia  
     
      Die alexandrinische Philosophin Hypatia  wurde zwischen
    350 und 370 n. Chr. als Tochter des Mathematikers Theon, dessen Schriften erhalten sind,
    geboren. Da ihr Vater am berühmten Museion seiner Heimatstadt unterrichtete, dürfte sie
    von ihm ihre mathematische Ausbildung erhalten haben. Wer sie in Philosophie unterwiesen
    hat, ist unbekannt. Hypatia war glänzend begabt und erwarb sich auf mehreren Gebieten so
    hohe Kompetenzen, dass sie von den Archonten der Stadt und vom ägyptischen Statthalter in
    wissenschaftlichen und praktischen Fragen zu Rate gezogen wurde. Sie war hochangesehen und
    eine führende Figur des damaligen kulturellen Lebens der wichtigsten Stadt am Südufer
    des Mittelmeers. Als Lehrerin versammelte sie zahlreiche Schüler um sich, die wir später
    in hohen Positionen in Verwaltung und Kirche wiederfinden. Ihr berühmtester Schüler war
    Synesios, der spätere Bischof der kyrenaischen Pentapolis. Von dessen Briefen sind einige
    an die Philosophin erhalten, in denen sich die lebenslange Verehrung ausdrückt, die er
    und seine Mitstudenten der charismatischen Lehrerin entgegenbrachten.  
     
    Drei (verlorene) Schriften Hypatias zu mathematischen Themen werden von Hesych
    aufgeführt. Ob sie weitere verfasst hat, ist unbekannt. Gewiss aber hat sie an Theons
    Schriften mitgearbeitet, wie dieser selbst in einer erhaltenen Randnotiz vermerkt. Als
    nach des Patriarchen Theophilos Tod (412) sich sein Neffe Kyrillos den Bischofsstuhl von
    Alexandrien erkämpfte, begannen sich die Verhältnisse in der Stadt in unerfreuliche
    Richtung zu verändern. Immer wieder versuchte der eifernde Bischof mit Gewaltmitteln die
    Position der Orthodoxie zuungunsten anderer Glaubensgruppen (Novatianer, Arianer, Juden)
    zu stärken. Dabei scheute er nicht zurück, die Grenzen des Amtsbereichs des kaiserlichen
    Statthalters Orest, wenn es ihm erforderlich schien, bedenkenlos zu überschreiten. Aus
    dem friedlichen Nebeneinander staatlicher und kirchlicher Gewalt entwickelte sich durch
    des Bischofs Umtriebe ein Machtkampf, der alsbald den inneren Frieden der Stadt zu
    zerstören drohte. Auf Seiten des Patriarchen standen die ungebildeten Volksschichten und
    die fanatischen Mönche aus dem nitrischen Gebirge südlich von Alexandrien, die dieser
    bei Bedarf zur Durchsetzung eigener Ziele herbeizurufen pflegte. Ferner hatte er sich in
    den Parabolanern, offiziell ein Krankenwärter- und Totenbestatterdienst, eine ihm blind
    ergebene Truppe herangebildet, die ungelöste Streitigkeiten auf die Straße trug und
    durch Einsatz von Gewalt zu bereinigen suchte.  
     
    Die Verwaltungsschicht und die Gebildeten, Heiden wie Christen, stellten sich auf Orestes'
    Seite. Auch Hypatia scheint ihre bis dahin geübte weise Zurückhaltung und Neutralität
    aufgegeben zu haben. Da sie sehr einflussreich war, fürchtete der Bischof um seine
    Position und wurde, wenn nicht zum Anstifter, so doch durch seine
    Feindseligkeitsbekundungen vor vielen ihm vertrauenden Menschen zur Letztursache für ihre
    Ermordung vor der Kaisarion-Kirche durch einen fanatisierten Christenpöbel.  
    Ihre Leiche wurde zerstückelt und verbrannt. Ihr Tod blieb ungesühnt. Die schöne
    Literatur hat sich immer wieder ihrer Person angenommen, da die Informationslücken zu
    ihrem Leben und Wirken zu einer Ausgestaltung aufforderten. Eine davon ist Fritz Mauthners
    Roman Hypatia aus dem Jahr1892.  
     
    2. Mauthners Hypatia  
     
    Mauthner zögert nicht, die Geschichte zugunsten seiner Heldin zu verändern, wo es ihm
    geboten scheint. Das Kind Hypatia wird geboren, als Kaiser Julian vor seinem Perserfeldzug
    in Alexandrien, das er in Wirklichkeit nie betreten hat, eine Truppenparade abhält. Der
    Kaiser gibt dem Leben des Kindes Richtung und Bedeutung, indem er ihm die weibliche
    Namensform des Zeus Hypatos verleiht und es Hypatia nennt. Dieses Kind bleibt unter
    meinem Schutz. Jeder Fluch der Unterwelt und jeder Blitz der Überirdischen soll die
    verdammte Hand treffen, die es wagt, das Kreuzeszeichen über mein Patenkind zu
    machen" (S. 10). Der Name wird Omen, Auftrag und Schicksal. Denn ebensowenig wie der
    Kaiser Erfolg in der Wiederherstellung des alten Götterglaubens hat, hat Mauthners
    Hypatia Erfolg mit ihrem ganz ähnlichen Ziel der Zurückdrängung des Galiläertums.
    Hypatia wächst in der Dienstwohnung Theons im Museion heran und wird von dem sieben Jahre
    älteren Knaben Isidoros, dessen Herkunft niemand kennt, unterrichtet. Isidoros gilt als
    belesenes Wunderkind in der Wissenschaft, das sich, sobald das Mädchen mit den
    schwarzen Wunderaugen", die verwunschene Prinzessin" (S. 19) zur
    jungen Frau geworden ist, alsbald in sie verliebt. Sowie sie, die schon von der ersten
    Unterrichtsstunde an Warum?" zu jedem neuen Wissensstoff fragte, zum
    heiratsfähigen Weib herangewachsen ist, bittet Isidoros Theon um die Hand seiner Tochter.
    Der vielversprechende Lehrstuhlanwärter wird jedoch in der Hochzeitsnacht von seiner
    Braut von sich gewiesen. Hypatia flüchtet zum Vater zurück. Vater, du bist auch
    ein Mann, aber das kannst du nicht wollen! Das ist ja fürchterlich! Kein Tier ist so
    häßlich!" (S. 35)  
     
    Hypatia, von einem idealen Leben besessen ( ... nur nicht vom Leben mit ihr reden,
    vom häßlichen Leben, das sie gar nicht kennen wolle", S. 31), bleibt hinfort
    Jungfrau und lässt sich auch von heftigem Liebeswerben einiger Jünglinge aus ihrer
    Studentenschaft, die ihrem Intellekt nicht minder wie ihrer Schönheit verfallen, davon
    abbringen. Isidoros entfernt sich tief enttäuscht von ihr und geht als Eremit in die
    nitrischen Berge. Nach dieser existentiellen Krise in Hypatias Leben beginnt die (auch
    historisch belegte) Zusammenarbeit Hypatias mit ihrem Vater, die sich zu ansehnlicher
    schöpferischer Fruchtbarkeit entwickelt. Zudem scheint ein Teil ihrer unabgeführten
    Erotik auf ihn übergegangen zusein. So kam es, daß Professor Theon, der vor dieser
    Zeit ein trockener Fachmensch war, nun plötzlich anfing, wissenschaftliche Schriften
    herauszugeben, welche sich durch ein gewisses jugendliches Ungestüm und durch eine
    beinahe künstlerische Eleganz auszeichneten" (S. 38).  
    Wenig später wird sie zur göttlichen Hypatia" (S. 42), welche, schön
    wie eine griechische Göttin und keusch wie eine christliche Nonne" (S. 43),
    dank ihrer berückenden Erscheinung, ihrem hinreißenden Vortrag und ihrer
    erstaunlichen Gelehrsamkeit" (S. 42), als Lehrerin weithin von sich reden macht und
    zur Glanzfigur im intellektuellen Lehrbetrieb Alexandriens wird. Dem von Julian ihr
    vorgezeichneten Weg treu, hält sie um die Zeit der Wahl des neuen Erzbischofs Kyrill
    (412) ein Kolleg mit dem Titel: Die religiöse Bewegung und Kritik des
    Christentums", mit dem sie die Lehre der jungen Kirche frontal angreift und
    ungeheuren Zulauf findet. Was dem Gesicht seinen unvergleichlichen Ausdruck gab, das
    waren die großen schwarzen Kinderaugen, die ... während des Vortrags leblos wie die
    Marmoraugen einer Götterstatue und doch wieder leuchtend von innerem Leben, über die
    Zuhörer hinweg ... irgendwo etwas Fernes, Großes schauten. Die tiefe, weiche Stimme der
    Rednerin endlich führte völlig hinaus aus den persönlichen Beziehungen, die wohl
    mancher der Studenten beim Anblick der schönen Lehrerin erträumen mochte. Der war es um
    die Sache zu tun ..." (S. 72).  
    Die Sache war die Überprüfung des christlichen Lehrgebäudes und seiner aus göttlichem
    Ursprung abgeleiteten Legitimation in julianischem Geist. Kyrill hält derweil seine erste
    Predigt in der Kathedrale und bemerkt mit brennender Eifersucht, dass die Elite der Stadt
    nicht ihm, sondern der Philosophin zuhörte. Über sein glattes Gesicht flog ein
    gelblicher Schimmer", so dass sein Sekretär flüsterte: Ihre Kritik hätte er
    ihr vielleicht vergeben, aber das nicht" (S. 74). So begann der Hass des Bischofs auf
    die heidnische Gelehrte, der sich durch den Umstand verkomplizierte, dass der Statthalter
    Orest mit Hypatia freundschaftlichen Umgang pflog. Der eifernde Bischof predigt von seiner
    Kanzel aber nicht nur gegen die ketzerischen Vorlesungen einer verkehrten
    Wissenschaft" (S. 78). Er legt sich auch mit der weltlichen Macht in der Person
    Orests an, dem der Schutz der alten heidnischen Akademie und der jüdischen Gemeinschaft
    obliegt. Der Pöbel beginnt mit Hypatias Diffamierung als diesem von der Hölle
    geschaffenen Weib" (S. 45), der Tochter Theons oder des Teufels" (S. 44).
    Dass diese Frau soviele Interessenten in ihre Kollegs zog, konnte mit natürlichen Dingen
    nicht zugehen, lag doch der Alleinbesitz der Wahrheit beim christlichen Patriarchen.
    So bildete sich allmählich die Sage, daß in der Hochburg des Satans, in dem
    Akademiegebäude von Alexandria, der oberste der Teufel selber hause in Gestalt eines
    wunderschönen Weibes", das die Jünglinge des Landes abwendig mache vom wahren
    lebendigen Gotte" (S. 80). Als Kyrill in die Reihe seiner ihn umgebenden Priester die
    Frage wirft: Habe ich denn gar keine Freunde in Alexandria, welche mit dieser
    griechischen Hexe und mit den Juden kurzen Prozeß machen?" antwortet sein vertrauter
    Hierax: Solche Geschäfte kann straflos nur der Pöbel besorgen" (S. 106).
    Hierax wird zur Ausführung der Reinigung Alexandriens zu den Mönchen und Eremiten ins
    nitrische Gebirge gesandt mit der Aufforderung, der bedrohten Kirche und dem bedrängten
    Patriarchen mit  
    energischer Tatkraft beizustehen. Der Anführer und berühmteste der Eremiten jenes
    Gebirges ist der von Hypatia als Mann zurückgestoßene ehemalige Lehrer Isidoros, der
    nach Rache, natürlich im Namen Christi, brennt. Sein abgewiesenes Begehren hat sich in
    ihm in pure Aggressivität verwandelt.  
     
    Inzwischen hat Kyrill mit seinen gewohnten Mitteln das Judenpogrom und die Vertreibung der
    israelitischen Gemeinschaft aus der Stadt inszeniert. Der Statthalter erlebt seine
    Ohnmacht, als er sich voller Empörung in den Bischofspalast begibt und von dem
    Patriarchen Rechenschaft für die Tat fordert. Er lernt einen religiösen Zyniker der
    Macht kennen, der das alte weltliche Imperium zugunsten der jungen Ekklesia aus den Angeln
    heben will. Excellenz scheinen nicht zu wissen, daß das Kaisertum aufgehört hat
    ... Eine neue Staatsform regiert selbst die Welt. Die Welt weiß es nur noch nicht. Die
    Kirche regiert. Der Kaiser ist nur noch eine Fahne" (S. 161). Endgültig scheint die
    säkulare imperiale Macht mit der Bettung des für heilig erklärten Ammonios, der Orest
    tätlich angegriffen und dann von seiner Umgebung getötet worden war, in das Grab
    Alexanders des Großen, dessen Gebeine verstreut werden, vernichtet. Das Heidentum ist mit
    dieser Geste unwiderruflich besiegt und Hypatias Leben scheint nunmehr verwirkt. Unter der
    Führung des Isidoros tötet ein Haufe abstinent lebender, misogyner Mönche (ihre
    Augen glühten", S. 222), ihrer sexuellen Motive unbewusst, Hypatia vor der
    Kirchentür. Wiehernd vor Lust vollendeten die Einsiedler das Werk" (S. 224).
    Der alte, abgedankte Orest bringt Hypatias Asche zur Bestattung auf  
    seinen zyprischen Landsitz.  
     
    3. Mauthners Roman als Dichtung  
     
    Mauthners Roman ist in seiner Themenvielfalt und Bildkräftigkeit ein durchaus auch heute
    noch interessantes Buch, das den Vergleich mit Kingsleys berühmterer Hypatia nicht zu
    scheuen braucht. Freilich ist Kingsley sorgfältiger in der Herausarbeitung der
    Zeitverhältnisse und vor allem in der sprachlichen Gestaltung.  
    Mauthners Sprache streift das Feuilleton, das er in Berlin reichlich und über Jahre
    versorgt hat. Julians Soldaten sprechen wie preußische Grenadiere und Julian selbst wie
    ein wilhelminischer Herrscher: Vorwärts, Jungen! Wir wollen auf die Perser
    losdreschen, daß nur das leere Stroh von ihren Köpfen übrig bleiben soll!" (S. 2).
    Die Truppe begrüßt den Kaiser mit: Guten Morgen, Majestät!" und vieles mehr.
    Heutigen Lesern, die Ransmayrs Tomi kennengelernt haben, fallen Mauthners milde
    Anachronismen indes weniger auf als seinen Zeitgenossen, welche diese Züge als den
    historischen Roman, verglichen mit der altfränkischen Sprache von Dahns Germanenromanen
    etwa, aktualisierend und erneuernd priesen. Aus seinem historischen Wissen baut Mauthner
    manche Widersinnigkeit ein, wie etwa Hypatias Lektüre von Augustins Schriften, die die
    Philosophin sicher nicht gekannt hat, da im griechischen Osten Latein als Bildungssprache
    nicht gelernt wurde. Synesios ist Araber, obgleich er sich zeitlebens seiner
    lakedaimonischen Herkunft rühmt; er ist unverheiratet und wirbt um die verehrte
    Philosophin, obwohl der historische Synesios, wenngleich Bischof, Weib und Kinder hatte;
    er überlebt ferner Hypatia, die tatsächlich später starb als er.  
     
    Entgegen Mauthners dem Leser vermitteltem Eindruck ist mit Hypatias Tod das Heidentum in
    Ägypten nicht vernichtet. Der Tempelkult ist bis zum Edikt Justinians (529) dort
    nachweisbar. Hypatia selbst hat in ihren Vorlesungen keineswegs den Kampf gegen die
    christliche Lehre aufgenommen, sondern verhielt sich neutral. Zudem zählte sie viele
    Christen zu ihren Schülern, die  
    nach nicht mehr verlangten, als in der angesehenen althellenischen Bildung unterwiesen zu
    werden. Sie geriet erst in tödliche Gefahr, als sie sich zu politischer Parteinahme
    zugunsten Orests verleiten ließ. Das intellektuelle Heidentum und die neuplatonische
    Philosophie lebten bis ins 6. Jahrhundert ungekränkt weiter. Der Neuplatonismus, den
    Hypatia von der Lehrkanzel aus vertrat, scheint als Lehre von Mauthner nicht sehr
    durchdrungen worden zu sein, bildete er doch die ideale Intellektualfolie für Hypatias
    jungfräulichen Lebensstil. Nicht diesseitige Schönheit und Sinnengenuss sind des Weisen
    Intention, sein Sinn ist vielmehr auf die jenseitige geistige, die wirkliche, Welt
    gerichtet. So ist auch des Neuplatonikers Julian Schimpfrede auf das Christentum:
    Die Lebensfreude wollen sie auslöschen, wie sie dem Griechentum jede Lust und jede
    Freude vergällt  
    haben für lange Zeit" (S. 10) ein Anachronismus. Man glaubt, eher Nietzsche zu
    hören. Christliche und neuplatonische Lehre sind sich in diesem Punkt, wie in so vielen
    anderen, einig wie Geschwister. Überhaupt geht ein Motivationsriss durch Hypatias
    Charakter, der bei Mauthner nicht aufgelöst ist. Es wird nicht verständlich, warum sie
    einerseits die sinnenfrohe altgriechische Götterwelt zurückwünscht, sich andererseits
    genuin weiblich-erotischem Verhalten gänzlich verschließt.  
     
    Drei Themen sind dem Roman als wiederkehrende, dem Romancier offenbar wichtige,
    Leitgedanken zu entnehmen, das der Stellung der Frau in der Männergesellschaft, das der
    Aufklärung und das diesem eng verbundene der religiös-geistigen Toleranz. Hypatia sieht,
    messerscharf wie eine heutige Feministin, die der aufkommenden Marienverehrung zugrunde
    liegenden Motive: Sie schickten sich an, ein schlichtes Weib als Gottesmutter zum
    höchsten Rang im Himmel zu erheben, und gleichzeitig stießen sie das Weib hinaus aus der
    Kirche" (S. 84). Unter gänzlicher Absehung von ihrem eigenen sinnlich-leiblichen
    Rückzug doziert die Philosophin als Sprachrohr Mauthners: Durch die ganze  
    christliche Kirchenlehre gehe ein krankhafter Abscheu vor aller Natur und vor aller
    Schönheit, und weil im Weibe Natur und Schönheit eins wurden im glücklichen Augenblick
    der Schöpfung, darum hasse das Christentum das Weib, und hasse es dann zumeist, wenn es
    zu seiner Natur und zu seiner Schönheit auch noch die geistige Freiheit erobern
    wolle" (S. 85). Sie verwahrt sich, daß man dem Weibe seine Menschenwürde
    nimmt, um die Männer den unbekannten Engeln gleich zu machen" (S. 85), und sie
    schließt ihren Vortrag mit dem Ausruf: Lieber eine Aspasia als eine Nonne!"
    (S. 86), wiewohl derlei Sätze zu Hypatias von Mauthner gezeichnetem Leben ohne Bezug
    sind. Kurzzeitig wird sie die Verlobte des Synesios, der die Rechte des
    selbständigen Weibes" (S. 101) in einer platonischen Ehe zu wahren gesonnen ist;
    sein wirkliches Weib will sie freilich nicht sein. Auch hierbei scheint Mauthners
    Eintreten für die Frauen wegen der inhaltlich und psychologisch nicht schlüssigen
    Darstellung voll unausgegorener Widersprüche.  
     
    Auf sichererem Boden kann der Autor sich als Aufklärer fühlen, der religiöse
    Machtmechanismen überzeugend bloßlegt, wie die politische Kaltschnäuzigkeit von
    Kirchenführern, die zur Begründung ihrer unsauberen Aktivitäten ständig Christus oder
    andere himmlische Gewährsleute im Munde führen und wie sie in Bischof Kyrill
    exemplarisch und plastisch verkörpert sind. Die Bischöfe seien die
    Geschäftsführer der neuen Partei geworden, seien ohne jede Religion, und die fanatischen
    Mönche seien unwissende und verrückte Schwärmer, etwa das, was unter der Herrschaft der
    alten Religion die Zauberer und Quacksalber gewesen wären" (S. 105).  
     
    Der aus Böhmen stammende und in Berlin, in der Zeit des Kulturkampfs, leidenschaftlich
    für Bismarck Partei ergreifende Mauthner stellt der intoleranten Orthodoxie mit Hypatia
    ein religiös tolerantes Christentum entgegen. Wie thöricht die Menschen doch
    seien, sich um solcher Glaubensvorstellungen willen zu bekämpfen. Wie Kinder thöricht
    wären, wenn sie um ihrer verschiedenen Träume willen raufen wollten'' (S. 175). Die
    Reaktionen des damaligen Katholizismus auf Mauthners Roman waren heftig und zornerfüllt
    und sind aus heutiger Sicht kaum mehr zu begreifen, es sei denn, Mauthner hat mit seiner
    Kritik Schmerzendes aufgerührt.  
     
    Mauthner hat um die alexandrinische Philosophin einen fesselnden Roman geschrieben, der
    jeder Trockenheit und jeden Staubbelags entbehrt. Dabei hat er ihrer Geschichte ein
    gerüttelt Maß an Zeitgenössischem beigemengt oder unterschoben. Freilich ist ihm das
    kaum zum Vorwurf zu machen, da die Belletristik dieses Privileg schon immer in Anspruch
    genommen hat. Das Geheimnis um die Person der wirklichen Hypatia indes bleibt auch nach
    diesem unterhaltsamen und ansprechenden Roman ungelüftet bestehen.  
     
    * Vgl. Strunz, Franz: Hypatia in der schönen Literatur (1): Charles Kingsleys
    Hypatia or New Foes with an Old Face".  
    Circulare Nr. 18, 1997, 3-5.  
     
    Literatur  
     
    Mauthner, Fritz: Hypatia. Roman aus dem Altertum. Stuttgart 1892.  
     
    Mauthner, Fritz: Nachwort zum dritten Bande. In ders.: Ausgewählte Schriften 3, 1919.
    S.327-328.  
     
    Anonymus: Fritz Mauthner und Fräulein Professor Hypatia. Stimmen aus Maria-Laach 44,
    1893, 123-128.  
     
    Arens, Katherine: Between Hypatia and Beauvoir: Philosophy as Discourse. Hypatia 10(4),
    1995, 46-75.  
     
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      Franz Strunz, Deisenhofen  
     
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