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antikinitiale2.jpg (4138 Byte)  jleonhardt.jpg (8506 Byte)   antikinitiale2.jpg (4138 Byte)

Zum Verhältnis von Latein und Geisteswissenschaften 

Zu Joachim Knape, Philipp Melanchthons „Rhetorik". Niemeyer,
Tübingen 1993 (Rhetorik-Forschungen 6). DM 98.-

Und: Sieben Thesen zum Verhältnis von Latein und Geisteswissenschaften

Dass es eine verdienstvolle Aufgabe war, eines der wichtigsten Rhetoriklehrbücher der Renaissance in lateinischem Urtext mit deutscher Übersetzung sowie einer Einleitung vorzulegen, steht außer Zweifel. Doch die fachkundigen Interessenten sind gewarnt: Unmittelbar nach dem Erscheinen dieses Bandes hat Lothar Mundt eine ungewöhnlich scharfe, geradezu vernichtende Rezension vorgelegt,1 in der er vor allem mangelnde handwerkliche Qualität und insbesondere die Fehler der Übersetzung beanstandete. Da diese Rezension bereits vor drei Jahren erschien, ist es kaum möglich, an dieser Stelle nun
Pseudo-Unbefangenheit zu demonstrieren. Dem Werk und der Wissenschaft dienlicher ist es, die Vorwürfe dieser Rezension ihrerseits einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Leider muss jedoch bestätigt werden, dass die von Lothar Mundt erhobenen Vorwürfe durchweg gerechtfertigt waren. Über die Bewertung mancher Kleinigkeit mag man diskutieren, manche Schwerpunkte kann man anders setzen: Die Feststellung, dass dieses Buch wissenschaftlichen Standards nicht genügt, ist hier in großer Objektivität zu treffen. Noch am wenigsten verfehlt ist die Einleitung, die zwar - wie Mundt bereits hervorhob - keine neuen Ergebnisse bringt, aber doch wenigstens einige Grundinformationen über das behandelte Werk vermittelt. Auch die Tatsache, dass der lateinische Text unhinterfragt aus Bretschneiders über 150 Jahre alter Ausgabe genommen wird, mag noch hingenommen werden. Wirklich unbrauchbar wird das Werk durch die mangelnde Qualität der Übersetzung. Es hilft nichts, dass Knape nur eine „Inhaltsparaphrase" liefern will (S. 60): die Tatsache, dass diese Paraphrase - abgesehen von einigen Abschnitten, die bewusst ausgelassen sind - um keine Zeile kürzer ist als eine wirkliche Übersetzung, zeigt, dass hierfür wohl nur die Not ausschlaggebend war, um eine genaue Wiedergabe des Textes herumzukommen. Und auch bei Inhaltsparaphrasen muss der Inhalt stimmen. Neben hunderten wirklich fehlerhafter
Detailübersetzungen finden sich hier jedoch sogar nicht wenige Stellen, wo aufgrund elementarer sprachlicher Missverständnisse der Sinn geradezu ins Gegenteil verkehrt wird. Man vergleiche etwa folgende Stelle über die imitatio Ciceros (Sp. 496 bei Bretschneider): Nam Politianus parum liberaliter facit, qui videtur ideo deterrerre alios ab imitatione Ciceronis, quia cum se natura ad aliud dicendi genus deduci intelligeret, iudicio videri voluit, id quod ipse consecutus non esset, improbare. Richtige Übersetzung: „Denn Politian ist zu engstirnig, der offensichtlich die anderen von der Nachahmung Ciceros abschrecken will; denn weil er sah, dass seine Natur ihn zu einem anderen Redestil führte, wollte er, dass es so aussehe, als lehne er aus fachlichem Urteil heraus das ab, was er selbst nicht erreicht hatte." Knape übersetzt (S. 110): „Politian ist zu restriktiv, wenn er meint, andere von der Nachahmung Ciceros mit Hinweis auf eine andere naturgegebene Art des Sprechens abhalten zu müssen; damit will er offensichtlich nur etwas mißbilligen, an das er sich selbst durchaus gehalten hat."

Neben solchen großflächigen Missgriffen2 finden sich zahllose Stellen, an denen einzelne lateinische Wörter entweder überhaupt nicht oder in völlig falscher Bedeutung wiedergegeben werden, wodurch an nicht wenigen Stellen auch der logische Zusammenhang des Textes empfindlich gestört wird.3 Kurzum: Die Mängel dieser „Übersetzung" oder „Paraphrase" betreffen nicht Feinheiten der Grammatik, an denen nur pedantische Altphilologen Anstoß nehmen, sondern würden auch in jeder Abiturprüfung im Fach Latein beanstandet werden. Sie machen das Buch schlichtweg unbrauchbar.

So harte Worte sollen hier jedoch nicht stehen, um den Autor eines thematisch interessanten Buches ein zweites Mal der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzuführen. Denn die Katastrophe, die hier geschehen ist, ist nicht allein seine Schuld. Sie weist vielmehr in seltener Deutlichkeit auf einen Missstand des Wissenschafts betriebes insgesamt hin. Dem aufmerksamen Beobachter kann es nämlich nicht entgehen, dass sich in den vergangenen Jahren Fälle häufen, wo selbst einfache Sachverhalte grob falsch interpretiert werden, weil man lateinische Quellentexte nicht mehr versteht. Es fehlt hier der Platz, dieses ausführlich an Beispielen vorzuführen;4 daher sei hier nur festgestellt, dass auch renommierte Handbücher von Lateinversehen nicht mehr frei sind und dass selbst in der zuletzt abgeschlossenen Auflage des Brockhaus nun bereits eine Titelangabe „Epigrammatum" (st. Epigrammatum libri)5 möglich ist; dass auch große Tageszeitungen nicht mehr in der Lage sind, selbst kurze lateinische Zitate fehlerfrei zu drucken, sei nur ergänzend angemerkt. Doch falsche Übersetzungen sind noch nicht das Schlimmste. Schädlicher ist, dass zahlreiche wichtige Forschungsaufgaben, für die man größere lateinische Textmengen aufarbeiten müsste, heute gar nicht mehr angepackt werden und sich damit implizit in vielen
Gebieten eine Verfälschung unserer kulturwissenschaftlichen Sicht ergibt, die in groteskem Gegensatz zum hermeneutischen Anspruch steht. Dass Herr Knape vor einer im Grunde ja sehr wichtigen Forschungsaufgabe nicht ausgewichen ist, um seine mangelnden Lateinkenntnisse überspielen zu können, muss so gesehen durchaus auch positiv anerkannt werden. Das nun allerdings bedrückende Ergebnis, das so zustandekam, soll daher vor allem zum Anlass genommen werden, einige grundsätzliche Überlegungen zur Rolle von Lateinkenntnissen in den Geisteswissenschaften anzustellen.6

Sieben Thesen zum Verhältnis von Latein und Geisteswissenschaften

These 1: Die Forderung von Lateinkenntnissen in den Geisteswissenschaften muss sich an den sachlichen Anforderungen der Wissenschaft orientieren.

Leider ist dies alles andere als selbstverständlich. Die unglückliche Entwicklung, die den Lateinunterricht in der Schule seit dem 19. Jahrhundert ohne Rücksicht auf einen konkreten Nutzen zum „Bildungsfach" schlechthin gemacht hat, belastet die Diskussion bis heute. Lateinkenntnisse gelten als nutzlos und antiquiert. Umgekehrt aber wirkt die übermächtige Tradition des Lateinischen bis heute so stark nach, dass man sich als Geisteswissenschaftler gar nicht offen zu mangelnden Lateinkenntnissen zu bekennen wagt. Welcher Germanist oder Historiker hat den Mut, sich die syntaktischen Feinheiten eines von ihm behandelten Textes von einem altphilologischen Kollegen vorrechnen zu lassen?
Opfer dieses unglücklichen Zustandes ist vor allem die Erforschung der frühen Neuzeit. Denn wie die blühende Mittelalterforschung zeigt, hindert die Zugangsbarriere des Lateinischen hier weder das Engagement der Forschung noch das Interesse der Öffentlichkeit. Die Kultur der frühen Neuzeit in Europa wird jedoch im allgemeinen bereits als volkssprachlich wahrgenommen, während ihr bedeutender lateinischer Anteil meist übersehen oder als absterbender Restbestand für zweitrangig erklärt wird. Dabei werden in Deutschland noch im 18. Jahrhundert rund ein Viertel aller Bücher in lateinischer Sprache gedruckt. Ein kulturgeschichtlicher Zugang zur Frühen Neuzeit ist nur möglich, wenn man sie als zweisprachig begreift.
Das bedeutet in der Praxis, nicht nur hin und wieder einen lateinischen Buchtitel oder ein Zitat zu übersetzen, sondern die lateinischen Bücher der damaligen Zeit - und das sind oft dicke Bücher - auf Latein lesen zu können. Dasselbe gilt für die Kenntnis der antiken Literatur: Selbst wenn man konzediert, dass ihre Bedeutung bis 1800 kontinuierlich abnimmt, so bleibt sie doch kanonisches Standardwissen aller Gebildeten, das oft genug die Folie bildet, von der sich die Entwicklung des Neuen
überhaupt erst sichtbar abhebt.

These 2: Jede wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geistesgeschichte des 16.-18. Jahrhunderts setzt die Fähigkeit voraus, lateinische Texte flüssig lesen und genau übersetzen zu können.

Dabei ist zunächst einmal ein Bewusstsein zu entwickeln, welche Schwierigkeiten der Umgang mit lateinischen Texten eigentlich bereithält. Denn allzu leicht fühlt man sich als Geisteswissenschaftler, daran gewöhnt, mit moderner Sekundärliteratur in zahlreichen Sprachen zu jonglieren, arglos sicher bei lateinischer Lektüre.
Doch die unausgesprochene gemeinsame Basis der Gegenwartskultur, die es ermöglicht, auch mit z. B. höchst rudimentären Portugiesischkenntnissen den Inhalt eines in dieser Sprache geschriebenen wissenschaftlichen Aufsatzes korrekt zu erfassen, gibt es beim Lateinischen nicht: Ohne rationale Kontrolle der Sprachstruktur, ohne den kulturellen Hintergrund der antiken Originalliteratur sind neulateinische Texte nicht zu bewältigen.

These 3: Die Bearbeitung lateinischer Texte der Neuzeit bedeutet eine anspruchsvolle Aufgabe und muss mit professionellem Anspruch bewältigt werden.

Nach diesen eher theoretischen Feststellungen sollen nun, ohne jedes humanistische Pathos, versuchsweise einige konkrete Reformvorschläge entwickelt werden, mit denen die Lage verbessert werden kann.
Dies betrifft zunächst die Institutionen der Wissenschaft. Die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Einteilung der Fächer hat in der Tat einen nicht unwesentlichen Anteil an der Vernachlässigung des Lateinischen: Die sich neu entwickelnde „Klassische Philologie" verschrieb sich ganz der Erforschung der Antike, während die danach etablierten Philologien der modernen europäischen Sprachen - durchaus nicht unbeeinflusst vom Nationalismus des 19. Jahrhunderts - sich den nationalsprachlichen
Texten widmeten. Dies ging so lange gut, wie das humanistische Gymnasium dafür sorgte, dass alle Studenten mit gründlichen Kenntnissen der antiken Sprachen an die Universität kamen und, wenn sie denn Interesse hatten, sich leicht auch in die Welt der lateinischen Texte einarbeiten konnten. Die Blüte der Humanismusforschung in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg spricht dafür, dass diese Rollenverteilung funktioniert hat. Als das neusprachliche oder naturwissenschaftlich orientierte Abitur
der häufigste Zugang zum Hochschulstudium wurde und Latein und Griechisch selbst im humanistischen Gymnasium an Bedeutung verloren haben, hat man schlicht vergessen, auf diese Entwicklung angemessen zu reagieren: Denn die allerorts eingerichteten „Latinumskurse" können dieses Defizit für Studenten nicht ersetzen, und es wäre illusorisch, heute Lateinkenntnisse wie im 19. Jahrhundert einfach vorauszusetzen. Erforderlich wäre zunächst einmal, entsprechend der Ausdifferenzierung der Neuphilologien in Teilgebiete auch für die neulateinische Tradition - oder allgemein die frühe Neuzeit - eigene Lehrstühle mit entsprechender Spezialisierungsmöglichkeit zu schaffen. Noch wichtiger aber
ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Klassischer Philologie als der Sachwalterin antiker Texte und Traditionen und den Neuphilologien, Geschichtswissenschaften usw. Niemand kann heute alle Kompetenzen, die für die Erforschung der frühen Neuzeit nötig sind, in einer Person vereinigen. Gefordert sind bei der studentischen Ausbildung ebenso wie bei der Forschung gegenseitige Serviceleistungen, wie sie unter den naturwissenschaftlichen Fächern längst selbstverständlich sind.

These 4: Die Erforschung der frühen Neuzeit muss als interdisziplinäre Aufgabe neu wahrgenommen werden und institutionell abgesichert werden.

Dazu müssen alle Teile ihren Beitrag leisten. In der Klassischen Philologie jedoch werden neuzeitliche Antikerezeption und neulateinische Literatur bisher allenfalls als interessantes Randgebiet gesehen. Hier halte ich einen Bewusstseinswandel für dringend erforderlich. Keineswegs soll die altertumswissenschaftliche Forschung als Kerngebiet der Klassischen Philologie aufgegeben werden; aber wer es angesichts der riesigen Forschungsdefizite im Bereich der frühen Neuzeit heute ablehnt, einen Teil der hier vorhandenen Forschungspotentiale gezielt für diese Aufgabe umzulenken, wird letztlich den Anspruch der Klassischen Philologie, eine zentrale europäische Kulturwissenschaft zu sein, unterhöhlen und sie in die Orchideenrolle drängen, in der sie ihre Kritiker schon jetzt sehen wollen.

These 5: Die Untersuchung der Antikenrezeption und neulateinischer Texte ist eine zentrale und zukunftsträchtige Aufgabe für die Klassische Philologie.

Auf der Seite der Neuphilologen und Historiker muss strenger auf lateinische Sprachkompetenz und Kenntnis antiker Literatur geachtet werden; ebenso muss es selbstverständlich (und nicht ehrenrührig - siehe These 1) sein, fachkundige Hilfe bei der Bearbeitung lateinischer Texte heranzuziehen. Schließlich kann aber auch eine Reform der Lateinausbildung an den Universitäten die Situation verbessern. Dazu sei abschließend hier ein Reformvorschlag unterbreitet. Er sieht eine Zweiteilung der Lateinausbildung vor in einen allgemeinen, wie bisher für alle verpflichtenden Teil und Aufbaukurse für spezieller Interessierte. Zunächst zum herkömmlichen Latinum: Wenn die meisten Studenten das Latinum als eine lästige Pflicht empfinden, die ihnen keinen erkennbaren Gewinn bringt, haben sie leider nicht ganz Unrecht. Die ganz auf Cicero, Cäsar und andere antike Klassiker fixierte Lateinausbildung bereitet nur mangelhaft auf die Situationen vor, in denen Studenten z. B. der Germanistik wirklich einmal Latein brauchen. Deswegen wäre es sinnvoll, nach der Lehrbuchphase (an der natürlich kein Weg
vorbeiführt) in der Lektürephase neben antiken Autoren auch neulateinische zu behandeln und, nach Studienfächern differenziert, eine wenigstens elementare Einführung in die neulateinische Tradition zu geben. Dies ließe sich verwirklichen, ohne dass vom sprachlichen Niveau des bisherigen Latinums Abstriche gemacht werden müssten. Wer aber z. B. als Germanistikstudent Texte aus einem lateinischen Band des 17. oder 18. Jahrhunderts gelesen hat und von der literaturgeschichtlichen Bedeutung des neulateinischen Dramas in Deutschland wenigstens einmal gehört hat, wird den Sinn des Latinums eher einsehen als durch das Studium der catilinarischen Reden Ciceros. Im übrigen bietet eine solche einführende Lektüreübung auch für die Studenten, welche die formale Qualifikation des Latinums bereits von der Schule mitbringen, sehr sinnvolle Grundlagen für das spätere Studium.

These 6: Die Latinumsausbildung an der Universität sollte die altertumswissenschaftliche Fixierung aufgeben und sich mehr an den tatsächlichen Anwendungsprofilen der jeweiligen Studienfächer
orientieren.

Vom Niveau des Latinums bis zu den Anforderungen der Wissenschaft, die, wie ausgeführt,
eine wirkliche Lektürefähigkeit im Lateinischen voraussetzt, ist es jedoch noch ein weiter Weg. Hier werden Interessenten von der Universität im Stich gelassen und auf das Eigenstudium verwiesen; denn die von klassischen Philologen angebotenen Sprachübungen sind allzusehr an den genau definierten Anforderungen philologischer Staatsexamina ausgerichtet. Lateinische Lektürekurse für Neuphilologen - diesmal als freiwilliges Angebot zur Spezialisierung - und die kontrollierte Anleitung zum kursorischen Lesen lateinischer Texte könnten hier wesentliche Anregung und Hilfe bieten und die Hemmschwelle senken, sich der lateinischen Tradition der Neuzeit zu stellen.

These 7: Für spezieller an der frühen Neuzeit Interessierte müssen Lehrveranstaltungen zur besseren Einübung ins Lateinische eingerichtet werden.

In einer Zeit, in der herkömmliche Studiengänge auf dem Prüfstand stehen, sollte man auch die Bedeutung lateinischer (und griechischer) Texte für die europäische Kulturtradition neu und zeitgerecht überdenken. Wenn sich die Pannen, die durch Unkenntnis dieser Sprachen entstehen, weiter häufen, werden wir den selbst gestellten hermeneutischen Ansprüchen nicht gerecht werden. Im Mittelalter stellte man Moses mit Hörnern dar, weil man eine Stelle des Alten Testaments (Exod. 34,35) sprachlich falsch gedeutet hatte. Wir sollten uns nicht nachsagen lassen, dass wir den Objekten unserer Forschung Hörner aufgesetzt haben.

1) Daphnis 23, 1994, S. 494-505.

2) Weitere Fälle (und zwar nur solche, die nicht bereits Mundt benannt hat): S. 64 „für die, die keine Sprachbegabung besitzen, eine Möglichkeit zu schaffen, so zu formulieren, daß der Text wenigstens gegliedert ist, daß das Wesentliche auch richtig herausgestellt und ein gewisses sprachliches Niveau erreicht wird" (Sp. 419 Bretschneider: Item, in dicendo etiam (hier zu verstehen als Steigerung gegenüber iudicare = Beurteilung von Reden anderer) in his, qui non destituuntur a natura, efficere, ut oratio certas partes habeat, et res magnas non exponat breviter, ut dialectica, sed addat verborum lumen). S. 92 „Albern ist auch das von den Stoikern traktierte Problem der Voraussetzungen von Voraussetzungen" (Sp. 462 Bretschn.: Inepta sunt et illa a Stoicis conficta ðñïçãìÝíá <et> ~ðïðñïçãìÝíá [Terminus der stoischen Ethik für die „von der Natur vorgezogenen" bzw. „nicht-vorgezogenen"
Dinge). S. 108 „Zu den guten Autoren sind nämlich weder jene unfähigen der Alten zu zählen, denen diese gewisse schreckliche Schreibweise eigen ist, die man zu Ciceros Zeit natürlich nicht mehr akzeptierte ..." (Sp. 494 Non enim numero inter bonos aut illos ineptos antiquitatis amatores, qui horribile quoddam sermonis genus habent, quod Ciceronis aetate prorsus exoleverat...). S. 110 „Jeder sollte sich hinsichtlich seiner Befähigungen eine bestimmte geistige Grundlage schaffen, damit er sich die ciceronische Diktion leichter aneignet und er, wenn er soweit ist, seine Gegenstände entsprechend auszudrücken, auch noch die Anordnung und Reihenfolge der Textteile nach dem Vorbild Ciceros einzurichten vermag" (Sp. 497 Bretschn.: Sed Rîéí sibi quisque faciat, ut ultro se Ciceronis verba offerant, quae cum ita coniungimus, ut res nostras explicent, tamen collocatio et series partium debet habere quandam Ciceronis similitudinem.)

3) Ein gravierender Fall findet sich bereits ganz am Anfang des Textes: Knape führt einen Abschnitt ein vor „Die Natur selbst lehrt einen gewissen Weg" (S. 63); in Wirklichkeit ist dieser Satz jedoch mit enim angeschlossen (Sp. 417 Bretschn.) und begründet unmittelbar den vorausgehenden Satz, von dem er nicht getrennt werden darf. Weitere Fälle: S. 69, 12. Z. v. u .„Doch zunächst muß aber über die Begrifflichkeit gesprochen werden" (Sp. 424 Bretschn. Sed interdum de appellatione prius disputatur); S. 84, 16. Z. v. u. „Unglück des Alters, der Geburt oder der körperlichen Beschaffenheiten" (Sp. 454
Bretschn. fortuna indigna aetate, genere, virtute, d. h. „ein Schicksal, das dem Lebensalter, der Abstammung oder persönlichen Leistung unwürdig ist"); S. 92, 10. Z. v. u „klugerweise" (Sp. 463
Bretschn. oben diligenter = sorgfältig); S. 93 „Inzwischen ist es gang und gäbe" (Sp. 463 Bretschn.: Tunc etiam ... decet = Dann aber ist es auch passend); S. 111 „daß sie die angestammte Bedeutung ... nicht kennen" (Sp. 497 Bretschn. unten: ... non reddant); S. 113 „Der imitator sollte auch wissen, welche Wege man bei der sprachlichen Ausschmückung beschreiten darf" (Sp. 501 Bretschn. oben Illud sciet etiam imitator, quod modus in ornando observandus sit). Auch mit den Fachtermini der Rhetorik geht Knape sehr nachlässig um; S. 75 wird unmittelbar hintereinander propositio einmal (falsch) als „die gemachten Ausführungen" übersetzt, dann unübersetzt gelassen und schließlich mit „Beweisziel" wiedergegeben (vgl. Sp. 433 Bretschneider).

4) Eine instruktive Sammlung aus verschiedenen Wissensgebieten findet sich bei W. Ludwig, über die Folgen der Lateinarmut in den Geisteswissenschaften, Gymnasium 89, 1991, 139-158; vgl. auch ders., Sind wir mit unserem Latein am Ende? Ein Werk über die Renaissancefamilie Borgia, Ztsch. für Württ. Landesgeschichte 52, 1993, 458-462.

5) Art. Owen, John, Bd. 16 (1991), S. 399.

6) Zu den wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten der folgenden Ausführungen vgl. auch W. Ludwig, Die neuzeitliche lateinische Literatur seit der Renaissance, in: F. Graf (Hrsg.), Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 324-325.

antikinitiale2.jpg (4138 Byte)  Jürgen Leonhardt, Marburg